10.09.2023 - Von der Freiheit der Kinder Gottes - Predigt am 14. Sonntag nach Trinitatis zu Röm. 8. 14-17 von Pfarrer R. Koller

14 Denn welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder.

15 Denn ihr habt nicht einen knechtischen Geist empfangen, dass ihr euch abermals fürchten müsstet; sondern ihr habt einen kindlichen Geist empfangen, durch den wir rufen: Abba, lieber Vater!

16 Der Geist selbst gibt Zeugnis unserm Geist, dass wir Gottes Kinder sind.

17 Sind wir aber Kinder, so sind wir auch Erben, nämlich Gottes Erben und Miterben Christi, wenn wir denn mit ihm leiden, damit wir auch mit zur Herrlichkeit erhoben werden.

 

„Ich habe in meinen jungen Jahren an Gott geglaubt. Dann wurde ich schwanger und bin jeden Sonntag in die Kirche gegangen. Ich habe immer darum gebetet, ein gesundes Kind zu bekommen. Als mein Sohn auf die Welt kam, war sein linker Arm gelähmt. Seither glaube ich nicht mehr an Gott. Und ich war auch nicht mehr in der Kirche.“ Dies erzählte mir eine ältere Dame anlässlich eines Beerdigungsgesprächs.
Welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder.
Jene Dame wähnte sich bestimmt als ein Kind Gottes. Sie war sich sicher, alles richtig zu machen. Sie ist sich sicher, alles richtig gemacht zu haben, bis heute. Der, der falsch war, der versagt hatte, das war nicht sie, sondern Gott. In ihrer Enttäuschung wandte sie sich von Gott ab.
Das ist sehr verständlich. Und sehr kindlich. „Wenn du nicht so tust, wie ich dich haben will, dann will ich mit dir nichts mehr zu tun haben.“

Wofür wird Gott hier verwendet? Offensichtlich als eine allmächtige Instanz, die meine Wünsche dann erfüllt, wenn ich gehorsam bin. Wahrscheinlich hatte die Dame oft und oft als Kind erlebt: wenn sie brav ist, bekommt sie etwas, wenn nicht, will man mit ihr nichts mehr zu tun haben. Da Gott in ihren Augen nicht brav gewesen ist, will sie nun mit ihm nichts mehr zu tun haben. Dies machen wir Menschen gerne und häufig: Anstatt unsere Meinung über den anderen, in diesem Fall über Gott zu überprüfen und entsprechend der Realität zu verändern, brechen wir den Kontakt ab. Das ist natürlich einfacher, weniger in Frage stellend, weniger verunsichernd.

„... manche Leute wollen Gott mit den Augen ansehen, mit denen sie eine Kuh ansehen, und wollen Gott lieben, wie sie eine Kuh lieben. Die liebst du wegen der Milch und des Käses und deines eigenen Nutzens. So halten es alle jene Leute, die Gott um äußeren Reichtums oder inneren Trostes willen lieben; die aber lieben Gott nicht recht, sondern sie lieben ihren Eigennutz.“ (Meister Eckhart)

Es weitet die Seele, sich ehrliche Rechenschaft darüber zu geben, wofür ich „Gott“ in meinem eigenen Leben „verwende“. Eckhart weist in seinem deftigen Bild darauf hin, dass „manche Leute“ Gott für ihren Egoismus verwenden. Die Frage ist nicht, was gebe ich Gott, sondern was kriege ich von ihm. Die genannte Dame war ein Stück weiter: Sie „fütterte“ Gott mit ihrem Gehorsam, und erwartete dafür die Erfüllung ihrer Wünsche. Im bäuerlichen Denken ist dies völlig in Ordnung: Wenn ich meine Kuh gut füttere, erwarte ich „zu Recht“, dass sie viel und gute Milch gibt. Wenn sie dies nicht tut, wird sie verkauft oder geschlachtet.

Dies wird Gott nicht gerecht, da Gott nicht „etwas unter anderem ist“. So fährt Eckhart fort: „Alles, worauf du dein Streben richtest, was nicht Gott in sich selbst ist, das kann niemals so gut sein, dass es dir nicht ein Hindernis für die höchste Wahrheit ist.“

Was aber ist „Gott in sich selbst“?

„Gott in sich selbst“ ist unerkennbar, die Metapher hierfür ist „Dunkelheit“. Gott geschieht „im Dunklen“. Deshalb ist jede Art kausalen Denkens („wenn - dann“) eine Bemächtigung Gottes. Deshalb sagt Meister Eckhart an anderer Stelle, dass die einzige, Gott angemessene Art zu beten die ist, „danke zu sagen“.

Jenes „danke“, aus dem heraus ein Denken strömt, das in Danken eingebunden ist. Dieses Denken ist ein bescheidenes. Es erkennt an, dass es sich nicht selbst geschaffen hat. Für die Selbstsetzung des Ich, für ein „Ich denke, also bin ich“ eignet sich diese Art des Denkens nicht.

Die Reaktion der Dame darauf, dass ihr dringender Wunsch nicht erfüllt worden ist, war kein In-Frage-Stellen ihrer eigenen Annahmen über „Gott und die Welt“, sondern das Ausscheiden Gottes. Sie konnte aus dieser Erfahrung nicht lernen. Nur: so kann nichts Neues werden. Dann hat das Alte, Vertraute die Möglichkeit für Neues getötet, oder mit den Worten des Apostels: „… denn wenn ihr nach dem Fleisch lebt, werdet ihr sterben müssen; wenn ihr aber durch den Geist die Taten des Fleisches tötet, so werdet ihr leben.“
Paulus ist ein Freund übertriebener Formulierungen. Ich meine, es ist schon viel an Veränderung geschehen, wenn das blinde, „gedankenlose“, auf den eigenen Profit bedachte „Tun“ der Welt sich mit einem nachdenklichen Geist verbinden lässt. Die Fähigkeit zum Nachdenken, die Fähigkeit, sich nüchtern zu fragen, wofür ich mein „Tun“ und mein „Nicht-Tun“ verwende, beeinflusst schließlich nachhaltig meine ganze Lebenshaltung.
Der Apostel freilich redet von der Freiheit der Kinder Gottes. In dem Evangelium, das zum heutigen Sonntag gehört, drückt sich diese Freiheit in Dankbarkeit aus. Ein Geheilter kehrt zurück, um sich zu bedanken. Ausgerechnet ein Ausländer, ein Fremder. Die andern Neun, die Welt, das Fleisch hat keine Zeit für Dankbarkeit. Es muss weitereilen. Von einem zum Nächsten. Schnell den Schmerz betäuben und vergessen, schnell sich was Schönes reinziehen. Schnell, schnell, schnell … Die Welt, das Fleisch, wird versklavt, „geknechtet“ von der Gier nach mehr, die sich paart mit Neid, der wiederum die Gier beflügelt ... Ja, und dann? „Du Narr! Diese Nacht wird man deine Seele von dir fordern.“ (Lk. 12,20)

Es ist die Anerkennung der eigenen Vergänglichkeit, über die Gottes Geist in den Menschen hineingelangt. „Alles Fleisch ist Gras ...“ (Jesaja 40,6) Das viel ersehnte und häufig propagierte Loslassen ist in der Tiefe ein Loslassen von der Illusion eines ewigen Lebens. Als hätten wir Menschen ein Recht darauf, dass es „immer so weitergeht“! Und es ist die Auferstehung der alten Täuschung und nicht die Auferstehung eines neuen Seins in Christus, zu glauben, mit dem auferstandenen Christus ließe sich das Problem der Endlichkeit meines Lebens lösen. Die Lösung geschieht über das Annehmen, über das tiefe Ja zu meinem Leben und in eins damit zu meinem Sterben.

In dieser Lösung löst sich meine hastig-flüchtige Getriebenheit in ein heiteres Treiben als Kind Gottes. „Denn ihr habt nicht einen knechtischen Geist empfangen, dass ihr euch abermals fürchten müsstet; sondern ihr habt einen kindlichen Geist empfangen, durch den wir rufen: Abba, lieber Vater!“

Gottes Geist ist kindlich, nicht kindisch. Wie Kinder, die gesund und langsam aufwachsen dürfen und nicht zu Tode gefördert werden, in sich selbst und in ihr Spiel versunken sind. Diese Fähigkeit des Versunken-Seins ist bekanntlich die Wurzel aller Kreativität.

Es ist die „Freiheit der Kinder Gottes“, die durch diese Zeilen des Paulus hindurchscheint. Eine verspielte, leichte und fröhliche Freiheit, die der Pfarrerssohn Friedrich Nietzsche bei den Christen (und wahrscheinlich bereits in seinem Elternhaus) vermisste. Die Entdeckung der Langsamkeit geschieht ebenfalls in dieser Freiheit. Die Öffnung zur Muße des Zeit-Habens und sich Zeit-Nehmens befreit von der Knechtschaft der Zeit und der verbreiteten geistlosen Hyperaktivität, in der der Nutzen optimiert und die Zeit im effektiven Zeitvertreib vertrieben werden soll.

Und führt schnurstracks zur Entdeckung der Schönheit dessen, was gerade ist. Es gibt keinen Augenblick, in dem nicht Schönes zu entdecken ist. Vorausgesetzt, ich lasse meinen Augen die Zeit, das, was es zu sehen gibt, auch zu erblicken. So werden die Kinder Gottes als „Miterben Christi“ auch zur Herrlichkeit des Sohnes erhoben werden - was nichts Anderes heißt, als sich jetzt schon darüber zu freuen, an der Liebe und Barmherzigkeit Gottes Anteil nehmen zu dürfen.

Es ist nicht nur die Aufgabe des Christentums sondern aller drei monotheistischen Religionen gerade in unserer Zeit, durch die Botschaft und das Vorleben der Barmherzigkeit Gottes - wieder! - glaubwürdig zu werden. Sich gerade nicht vom Hass, der Angst und dem daraus folgenden starren Falsch-Richtig-Denken der Welt, des „Fleisches“, vergiften zu lassen.
Es geht um das Vorleben einer heiteren Erbengemeinschaft, die nicht voller Gier, Angst und Neid sich um das Erbe streitet. Die endlich die müßige Frage, wer nun den „wahren“ Gott verkündet und verkündigt, voller Demut unbeantwortet lässt, weil sie unbeantwortbar ist. Die in der Geschichte erlebten blutigen religiösen Erbstreitigkeiten sind die Hauptursache dafür, dass Religionen unglaubwürdig geworden sind. Zu Recht. Vor lauter Streit wird immer wieder vergessen, das Erbe selbst zu pflegen und zu bewahren! Das Erbe, in dem es um die Menschlichkeit Gottes als Bedingung für die Menschlichkeit des Menschen geht. Das Erbe davon, dass nicht Nutzen das letzte Wort bei Gott hat, sondern das Sein und Bleiben in der Barmherzigkeit und Liebe Gottes. Dazu kann jede der drei großen monotheistischen Religionen ihren ganz eigenen Beitrag leisten. Denn welche der Geist Gottes treibt, die sind Kinder Gottes.

Im Christentum wird dieser Geist Gottes in besonderer Weise mit jenem Jesus aus Nazareth in Verbindung gebracht. So ist dieses Paulus-Wort zugleich der Wochenspruch zum 1. Sonntag nach Epiphanias, an dem das Evangelium von der Taufe Jesu handelt und dem Bekenntnis Gottes, des Vaters, zu seinem Sohn. Wenn dies exklusiv verstanden wird, dass wir Christen nämlich - als die Einzigen - den „wahren“ Sohn Gottes kennen und bekennen, dann ist das Zunder für einen Erbstreit. Und die christliche Religion wird missbraucht für Überheblichkeit. Wenn wir dies aber inklusiv verstehen, so nämlich, dass in Jesus Christus sich Gott in seiner radikal menschlich-verletzlichen Seite offenbart hat, bis dahin, dass wir ihn „Abba“ nennen dürfen - dann entsteht Raum für andere Aspekte Gottes, die der Islam bzw. das Judentum in den Fokus rücken. Und dann würden die Religionen und ihre Mitglieder auch vorleben, was sie nicht müde werden zu predigen: dass im Zentrum die Wahrheit des unerkennbaren Gottes steht, die höher ist als all unsere Vernunft, derer wir aber teilhaftig werden in der einfühlsamen Zuwendung zu allem Lebendigen.