20.08.2023 - "Lieben - lernen" Predigt zu Lk 7,36-50 am 11. Sonntag n. Trinitatis (Vikar Fabiunke)

Liebe Gemeinde,

Jesu Rede endet mit einer denkwürdigen Aussage:

„wem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig“.

Eine Lehrbuchaussage, eine Aussage über den Menschen als solchen.

 

Ich denke an garstige, rachsüchtige, brutale oder erbarmungslose Menschen.

Woher kommt ihre Bösartigkeit?

 

Familien, Dörfer, ja menschliche Gemeinschaften überhaupt haben ihre ganz eigenen Erklärungsmuster:

„Bereits seine Mutter war ein garstiges Biest.“

„Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.“

„Der Vater war genauso, mit allen zerstritten, am Ende allein und verbittert.“

 

Boshaftigkeit, Geiz, Zorn – sämtliche Verkrümmungen des Menschen, sie alle scheinen nach diesem Schema in Familien zu liegen.

Da schauen wir für unserer Erklärung zuweilen tief in die Vergangenheit einer Familie und werden fündig.

Auf solche Weise suchen wir nach einer Form der Selbstverschuldung.

So geraten wir gar nicht erst in den Gefahrenbereich, einmal selbst ähnlich verdorben zu werden.

Klar, wir machen Fehler, kennen Zorn, Geiz, Bitterkeit – aber diese sind selbstverständlich nicht wesenhaft.

Also nicht wesenhaft für unsere Familie, und somit nicht für uns selbst.

 

Und wie tief menschlich ist es, so zu begründen!

Ja, es ist sogar biblisch:

Da heißt es doch im 4. Buch Mose:

„Der Herr ist geduldig und von großer Barmherzigkeit und vergibt Missetat und Übertretung, aber er lässt niemand ungestraft, sondern sucht heim die Missetat der Väter an den Kindern bis ins dritte und vierte Glied.“ (Lev 14,18)

 

Die Schandtaten der Väter bis ins „dritte und vierte Glied heimsuchen“;

dies kann man auch so verstehen, dass Gott in nachfolgenden Generationen, quasi genetisch, denselben unheilvollen Zorn oder dieselbe Leid bringende Brutalität ausprägt, wie er dem Familien-Ursünder, oder der Familien-Ursünderin innewohnte.

 

Jesus aber streicht über diese Erklärungsmuster hinweg, wenn er sagt:

„Wem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig.“

 

Und obgleich wir üble charakterliche Anlage noch immer familiär zu erklären suchen, so meine ich doch, dass wir in unseren heutigen Auffassungen über den Menschen Jesu pädagogischem Leitsatz viel näher stehen als so manche Generation vor uns.

Geht nicht sogar unsere heutige weltliche, das heißt nicht-christliche, Pädagogik davon aus, dass der Grund unserer Missetaten, also manch üble charakterliche Voraussetzung, auf bestimmte Erlebnisse zurückzuführen ist?!

Dass es also ein Entwicklung unserer Güte oder Verdorbenheit gibt, welche von Umwelteinflüssen bestimmte waren?

Insbesondere unser Schulsystem scheint Jesu Wahrheit verinnerlicht zu haben:

Auf verhaltensauffällige Kinder prügeln Lehrer nicht bloß ein.

Und generell wird ja an unseren Schulen Vergehen nicht mehr mit Prügel geahndet.

Ein verhaltensauffälliges Kind wird nicht abgeschrieben.

Versuch um Versuch wird unternommen, es zu ändern.

Der erste Schritt im heutigen Schulsystem würde doch sein, zu fragen:

Welchen Einflüssen ist das Kind ausgesetzt gewesen?

Welche schlechten Vorbilder erlebt es?

Wie werden Übertretungen zuhause geahndet?

 

Heute fragen wir also viel intuitiver als mancher unserer Vorväter:

Welche Einflüsse formten das Kind?

 

Oder Jesuanisch gesprochen:

Wie wenig muss diesem Kind zuhause vergeben worden sein, dass es so wenig liebt?!

 

Von Vererbung lässt sich nach Jesu Auffassung höchstens mit Blick auf eine Weitergabe von Verhaltensweisen, nicht aber als Vererbung einer grundsätzlichen Anlage, die man vielleicht noch als Fluch Gottes über eine Familie auslegen könnte, sprechen.

Dieser Blick Jesu auf die Menschenkinder ist befreiend, denn er räumt die Möglichkeit der Umkehr ein.

Dann sind im Beispiel des problematischen Kindes, welches seine Mitschüler schlägt und die Lehrer beleidigt, neue Vorbilder gefragt.

Die Erzieher, Lehrer und überhaupt das gesamte außerhäusliche Umfeld dieses Kindes reagieren dann gerade nicht wie es das Kind gewohnt ist.

Diesem Kind werden neue Möglichkeiten eröffnet, indem ihm das doppelte Vergehen mit mindestens dreifacher Vergebung beantwortet wird.

Wohlgemerkt: Liebe und Vergebung sollen hier nicht ein Ausbleiben von Konsequenzen bedeuten!

„Sünden, die nicht gescholten werden dürfen, sind auch nicht vergeben“ sprach Martin Luther in einer Auslegung des heutigen Evangeliumstextes.

Alle erzieherischen Folgen aber müssen im Geiste der Liebe und der Vergebung geschehen.

Das Kind soll sich bleibender und liebender Aufmerksamkeit sicher sein können.

Das größte Vergehen an diesem Kind war doch, dass es nichts kannte außer Ignoranz oder harter Strafe.

Womöglich lastet ersteres sogar schwerer als letzteres.

 

Mit Jesu Weisung ließe sich auch unser Justizsystem kritisieren:

Kann ein mehrjähriger Freiheitsentzug als fortwährender Akt der Vergebung verstanden werden?

Ziel ist doch, dass der Täter nach seiner Freilassung mehr liebt, also muss ihm auch viel vergeben werden?

Im Falle mehrfachen und kaltblütigen Mordes und im direkten Vergleich mit den strafrechtlichen Konsequenzen in manchen US-Bundesstaaten – der Todesstrafe – vielleicht schon.

Aber an und für sich eher weniger.

Und dann die Frage:

kann man überhaupt von einem Staat fordern, so zu vergeben, wie Jesus es tat?

 

Und so gibt es noch viele Bereiche unserer Gesellschaft, die wir auf Jesu Weisung hin prüfen könnten.

Doch aller Anfang dieses konkreten Prüfens muss bei unserem nächsten beginnen:

 

Was ist ihm widerfahren, damit er andere wie Dreck behandelt?

Wie viel Liebe und Vertrauen musste er selbst entbehren, dass er mich so verarschen konnte?

Einem solchen Mensch zu vergeben, ihn auch noch zu begleiten und zu unterstützen, ist eine große Forderung.

Jesus spricht uns aber zu, den Sprung zu wagen.

In der Szene der Salbung der Füße Jesu Jesu durch die Frau geht es vielleicht gar nicht so sehr um die Tatsache, dass die Frau ausgerechnet Jesu Füße salbt.

Was wir, die wir Jesus auf Erden nicht mehr haben, daraus mitnehmen sollen ist doch dies:

Die Sünderin wird von Jesus dem Simon bevorzugt, weil sie ihn vorbehaltlos annahm und sich ihm gleich machte.

Wie es Jesus selbst tat, ging sie auf die Knie und salbte einem Fremden die schmutzigen Füße.

Sie machte sich Jesus gleich, und nahm damit seinen Blick auf die Menschen an:

Mit diesem Blick sehen wir in demjenigen, der an uns schuldig geworden ist einen bemitleidenswerten Menschen, dem es in seinem Leben womöglich an Liebe, Achtung und guten Vorbildern gefehlt hat.

Jesus ermutigt uns dazu, diesem Menschen zu vergeben, und ihn in Liebe zu begleiten.

 

Vielleicht gelingt es uns gar, unserer Umgebung diesen liebenden Blick Jesu beizubringen.

Jesus ermutigt uns zu dem Glauben, den nachsichtigen Blick in anderen zu vermuten – eine Perspektive der Befreiung.

So brauchen wir uns nicht zu ängstigen, einmal selbst hinter einer „gesellschaftlichen Scheidewand“ (Friedrich Gogarten), die vermeintlich Verlorene von vermeintlich Erwählten trennt, zu verschwinden.

Dann dürfen wir in der dauerhaften Perspektive leben, dass uns unser Nächster, unsere Freunde oder unsere Kinder auch dann vergeben und lieben werden, wenn wir einmal selbst den falschen Vorbildern folgen sollten, oder in Einsamkeit verbittert und bösartig werden sollten.

 

Amen.