27.11.2022 - „Gott ist kein Gentleman“ - Predigt am 1. Advent zu Lk. 1,67-79 von Pfarrer R.Koller

Siehe dein König kommt zu dir ein Gerechter und ein Helfer. (Wochenspruch Sach. 9, 9b)

 

1. Das Licht am Kranz kann nicht die Nacht erhellen,

doch soll es dir und mir ein Zeichen sein!

Es strahlt uns Gottes Glanz aus Finsternissen

und bricht in unsre dunklen Herzen ein.

 

2. Das erste Licht will uns zur Freude rufen,

so freuet euch im Herren allezeit!

Wie es die Hirten auf dem Felde hörten:

Gott selber tritt in unsre Dunkelheit.

 

Der Lobgesang des Zacharias, auch "Benedictus" genannt, war allgemein bekannt, denn er war Bestandteil des täglichen Morgengebetes:

67 Und sein Vater Zacharias wurde vom Heiligen Geist erfüllt, weissagte und sprach:

68 Gelobt sei der Herr, der Gott Israels!

Denn er hat besucht und erlöst sein Volk

69 und hat uns aufgerichtet eine Macht des Heils

im Hause seines Dieners David

70 – wie er vorzeiten geredet hat

durch den Mund seiner heiligen Propheten –,

71 dass er uns errettete von unsern Feinden

und aus der Hand aller, die uns hassen,

72 und Barmherzigkeit erzeigte unsern Vätern

und gedächte an seinen heiligen Bund

73 und an den Eid, den er geschworen hat unserm Vater Abraham, uns zu geben,

74 dass wir, erlöst aus der Hand unsrer Feinde,

75 ihm dienten ohne Furcht unser Leben lang

in Heiligkeit und Gerechtigkeit vor seinen Augen.

76 Und du, Kindlein, wirst ein Prophet des Höchsten heißen. Denn du wirst dem Herrn vorangehen, dass du seinen Weg bereitest

77 und Erkenntnis des Heils gebest seinem Volk

in der Vergebung ihrer Sünden,

78 durch die herzliche Barmherzigkeit unseres Gottes,

durch die uns besuchen wird das aufgehende Licht aus der Höhe,

79 damit es erscheine denen, die sitzen in Finsternis und Schatten des Todes,

und richte unsere Füße auf den Weg des Friedens.

 

Es gibt eine schöne und wahre Geschichte von Prinz Edward von Windsor (* 23. Juni 1894 in der White Lodge in London; † 28. Mai 1972 in Paris), der als Prinz von Wales eine Indienreise unternahm. Er war der Sohn des Königs von England, und als solcher repräsentierte er damals die höchste Macht im Lande. Für die Geächteten innerhalb der indischen Gesellschaft hatte er gar göttliche Bedeutung.

Als er sich in Neu-Delhi einem der Stadttore zur Altstadt, dem Delhi Gate, näherte, warteten mehr als 25.000 Geächtete auf ihn. Sie wollten wenigstens den Wagen vorbeifahren sehen, in dem der Prinz chauffiert wurde, und vielleicht, mit ein bisschen Glück, den Prinzen durch das Autofenster sehen. Aber Edward, Prinz von Wales, ließ die Wagenkolonne anhalten, stieg aus und hörte einen Sprecher der 6 Millionen Geächteten im Lande ihn bitten, dass er dafür sorgen möge, dass sie nicht ausgestoßen werden und der Tyrannei derer überlassen, die sie verachteten und als Sklaven halten würden. Der Prinz hörte aufmerksam zu und tat dann etwas, was bisher als unvorstellbar gegolten hatte: Er erhob sich. Er erhob sich für diese Geächteten, diejenigen, die weniger geachtet waren als Hunde. Er sprach einige freundliche Worte, lächelte in die Runde und erhob sogar seine Hand zum Gruß.

Augenzeugen berichteten später, dass es über diese nie zuvor dagewesene Handlung eines Herrschers in Indien gegenüber Geächteten eine besondere Beobachtung gab: Ein Strahlen haben viele im Gesicht des Prinzen gesehen. Das hat sie ermutigt, dass er ernsthaft berührt war von dieser Begegnung, und es gab Hoffnung auf Besserung.

1936 war er nur zehn Monate König von England als Edward VIII. Sein Interesse an der sozialen Frage wurde öffentlich bemerkt, als er als König in Südwales Kohleminen besichtigte und zu den dortigen Zuständen gesagt hatte: „Something must be done“ (Es muss etwas getan werden).

 

„... das aufgehende Licht aus der Höhe wird uns besuchen, damit es erscheine denen, die sitzen in Finsternis und Schatten des Todes ...“ - So sagt es Zacharias, Vater Johannes des Täufers, der das Kommen des Messias ankündigen wird.

 

„... das aufgehende Licht aus der Höhe wird uns besuchen, damit es erscheine denen, die sitzen in Finsternis und Schatten des Todes ...“ Gibt es passendere Worte für unsere Zeit oder eine treffendere Wahrheit für unseren heutigen Tag?

 

Von Jakob V. von Schottland (1512-1542) wird berichtet, dass er bisweilen seine königlichen Gewänder ablegte und sich als Bauer verkleidet unter das Volk mischte. Er hat mitgeholfen bei der täglichen Arbeit, hörte des Volkes Gespräche und Meinungen, nahm am alltäglichen Leben teil und war mittendrin in des Volkes Sorgen und Nöten. Er kannte seine Untertanen sehr persönlich, nicht als ein König, der vom entfernten Thron aus regierte, sondern als jemand, der mit dem Volk gelebt und gearbeitet hatte. Nur deshalb regierte er mit Verständnis, Besorgnis und Mitgefühl für alle seine Untertanen. Und als die Bauern die Wahrheit über ihren König erfuhren, dass er nämlich unter ihnen lebte und Anteil hatte an ihrem Dasein, machte sie das fröhlich und sie wurden gewiss: Der, der sie regierte, hatte ein Herz voll Liebe und Verständnis.

 

Genau so dient die heute beginnende Adventszeit unserer Vergewisserung, dass Gott mit unserer Welt liebevoll verbunden ist - auf dass auch wir uns vorbereiten auf das Kommen des Gottessohnes!

 

Der US-amerikanische Psychologe und Philosoph William James (1842-1910) bemerkte einmal im übertragenen Sinne: Der Prinz der Dunkelheit mag ein Gentleman sein, so wie uns berichtet wird. Aber was immer den Gott des Himmels und der Erden angeht, kann dieser mit Sicherheit kein Gentleman sein. Denn er wird als Helfer in den Niederungen unseres menschlichen Daseins weit mehr gebraucht als seine Würde im höchsten Himmel!

Die Metapher, die William James hier verwendet, um Gott vom Leben eines Gentlemans abzugrenzen, macht in unserer Zeit kaum noch Sinn und könnte zu Missverständnissen führen. Aber James schreibt hier auf dem Hintergrund der Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert in den USA, also vor über 120 Jahren. Zu dieser Zeit war man als Gentleman Teil einer gesellschaftlichen Schicht, die es sich leisten konnte, im eleganten Snobismus aufzugehen und mit Verachtung für alles zu leben, was nicht dem eigenen Spaß und Wohlergehen diente.

Ein Gentleman zu sein hieß, Teil einer exklusiven gesellschaftlichen Schicht zu sein und sich entsprechend deutlich von allen anderen gesellschaftlichen Schichten abzusetzen, natürlich nach oben hin. So gab es ganz festgeschriebene soziale Regeln, was ein Gentleman tat oder eben auf gar keinen Fall tun durfte. Und eins war klar: Ein Gentleman machte sich nicht die Hände schmutzig, besser gesagt, die weißen Handschuhe. Ein Gentleman hatte nicht in Kontakt zu sein mit anderen gesellschaftlichen Schichten, die nicht seinem Niveau entsprachen. Er bildete einen Zirkel Gleichgesinnter um sich herum und überließ den Rest der Welt ihrem Schicksal. Das alltägliche Leben der Menschen kümmerte ihn nicht. Er war im wahrsten Sinne des Wortes ein exklusiver Separatist, der sein ganzes Leben um seine selbsterzeugte künstliche Welt herum aufbaute, weit weg von den Realitäten des wirklichen Lebens.

Auf diesem Hintergrund sieht William James Gott keinesfalls als Gentleman. Wäre Gott ein Gentleman der alten Schule, könnte er sich niemals um etwas anderes kümmern als nur um sich selbst. Es wäre völlig undenkbar, dass Gott sich um Sorgen und Nöte anderer kümmern könnte oder sich gar von ihnen berühren lassen würde.

Nein, Gott ist kein Gentleman, denn er wird als Helfer in den Niederungen dieser Welt und unseres menschlichen Daseins weit mehr gebraucht als seine Würde im höchsten Himmel!

 

Gott zeigt sich in Jesus Christus als das Licht der Welt - gerade für die, die in der Finsternis und im Schatten des Todes sitzen.

In einem Nest mit Namen Bethlehem, in dem nichts Königliches reserviert war, ließ er seinen Sohn zur Welt kommen. Noch nicht einmal in der Hütte eines Bauern, sondern im Dreck eines Stalls und mit dem Geruch und den Geräuschen eines Stalls kommt Gottes Sohn zur Welt. Der Sohn Gottes kommt - recht verstanden - als Niedrigster unter den Niedrigen in diese Welt - um vom ersten Moment an Zeugnis abzulegen davon, wer und wie sein himmlischer Vater ist: nämlich schutzlose und von Anfang an bedrohte Liebe zu dieser Welt und zu uns Menschen, zu uns, die wir alle in der Finsternis und im Schatten des Todes sitzen!

Nein, Gott ist kein Gentleman. Gott überschreitet die Grenze von Himmel und Erde, um sich einzumischen in diese seine Welt und in unser Leben.

Erlösen will er uns in dieser Welt: uns lösen von allen Mächten der Finsternis:

-              von unserer Gottlosigkeit und unserem Zwang zur Selbstvergottung;

-              von der ängstlichen Sorge um uns selbst und unserer Gleichgültigkeit gegenüber den Mitgeschöpfen;

-              von unserer Angst vor dem Nichts und der Sinnlosigkeit unseres Lebens, die wir alle im Schatten des Todes sitzen.

Erlösen will er uns für diese Welt: frei machen zur Ehrfurcht vor Gott und allem Lebendigen; frei machen zur selbstlosen Liebe und zum Mit-Leid; frei machen von allem unnötigen Gepäck auf unserer Pilgerschaft zur Ewigkeit! Und uns aus- und zurüsten mit dem Geist Gottes, dem Geist der Freiheit!

 

Das tut er durch seinen Sohn Jesus Christus, auf dessen Ankunft wir uns in dieser Adventszeit vorbereiten. Er ist das Licht für alle, die im Dunkeln sitzen - persönlicher Garant dafür, dass Gott sich um diese Welt und ihre Menschen kümmert. Sein Sich-Kümmern geht so weit, dass er in die letzten und tiefsten Abgründe des Menschlichen hinabsteigen wird, ja, selbst den Abstieg in die Hölle der Verzweiflung und Gottverlassenheit nicht scheuen wird.

Er wird Teil dieser Welt sein - einer Welt, in der sich die meisten Menschen eher das Image eines Gentlemans geben. Von Anbeginn an wird er verspottet werden, weil er nicht als Gentleman leben wird. Man wird ihm oft vorhalten, dass er mit Sündern, mit Feinden Gottes, zusammensitzen und mit ihnen an einem Tisch essen wird.

Aber genau das ist der Weg des Gottes, der kein Gentleman ist, sondern sich dieser Welt mit all ihren Sorgen und Nöten und in all ihren Niederungen offenbart. Die Gesunden brauchen keinen Arzt, sondern die Kranken. So wird Jesus zur Welt reden. Jesus wird sich aufmachen und die Menschen in ihren Schicksalen aufsuchen. Und er wird auch seinen Jüngern dies auftragen.

Er wird seine Hände auf Aussätzige legen und auf Blinde - allesamt „Unreine“ und Geächtete ihrer Zeit; er wird die Selbstgerechten aufwecken, die Ignoranten belehren, den Sündern vergeben und so als derjenige sichtbar werden, der Gottes Willen tut, der die väterliche Liebe lebt und all denen erweist, die ihrer bedürfen - auch, ja gerade den verlorenen Töchtern und Söhnen des himmlischen Vaters!

Selbst am Kreuz wird er als gewöhnlicher Krimineller sterben und die Krone, die sie ihm zum Gelächter aufsetzen, wird aus Dornen sein. Die Inschrift am Kreuz wird ihn verspotten als „König der Juden“. Verachtet, geschmäht und bespuckt, wird er selbst diesen letzten Moment zu einem königlichen machen, indem er selbst im Angesicht des Todes noch einem Mitverurteiltem vergibt und so noch im Sterben Gottes Liebe zu einer solch grausamen Welt offenbart.

 

Der Lobgesang des Zacharias offenbart uns das Evangelium eines mitfühlenden Gottes: „... das aufgehende Licht aus der Höhe wird uns besuchen, damit es erscheine denen, die sitzen in Finsternis und Schatten des Todes ...“

 

Das Kreuz hat ein für alle Mal bewiesen, dass Gott kein Gentleman ist, dass er nicht weit entfernt thront und über die Nöte der Welt nichts weiß und wissen will. Im Gegenteil! Gott ist an jedem Ort, an dem er gebraucht wird. Und kein Ort ist zu unwirtlich, klein oder bedeutungslos, dass Gott ihn nicht aufsuchte.

„...das aufgehende Licht aus der Höhe wird uns besuchen, damit es erscheine denen, die sitzen in Finsternis und Schatten des Todes ...“

 

Gott ist kein Gentleman. Er kommt in unsere Welt, vergibt allen, die sich von seiner Liebe berühren, verändern und leiten lassen. So lässt er immer wieder das Licht neuen, befreiten Lebens aufgehen inmitten aller Dunkelheit in uns und um uns herum.

Das Abendmahl steht als Sakrament genau dafür ein. Das Abendmahl zeigt uns Gott, wie er an unserer Welt teilhat. „Das ist mein Leib, der für euch gegeben wird; das ist mein Blut, das für euch vergossen wird!“

„Für euch!“ ruft uns das Evangelium von Jesus Christus zu! Für euch hat er es erlitten - um dem Tode für uns die Macht zu nehmen! Um uns barmherzig zu machen! Und um unser aller Bestimmung zur Vollendung bei Gott ans Licht zu bringen!