06.06.2022 - …und sie hörten nicht auf! - Predigt zu 4. Mose 11,11+12,14-17,24+25 am Pfingstmontag von Pfarrer R. Koller

Zu Pfingsten führt der Heilige Geist Regie. Heute ist sein Fest, sein großer Tag. Im Dreiklang der göttlichen Daseinsformen belegt er sonst immer nur den dritten Platz. Oft hat er es schwer, sich zu behaupten gegen Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erden, und erst recht gegen Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn, der im Kirchenjahr so viele Feste für sich feiern darf.

Das liegt vielleicht an der unerträglichen Leichtigkeit des Seins, mit der er, der Geist Gottes, von Anfang an über den Wassern schwebte. Oder an der ihm eigenen Flatterhaftigkeit. So sagt man ihm nach, dass er stets weht, wo er will. Keinen Thron hat er im Himmel und kein Kreuz auf Erden. Kommt von über den Wolken, wo die Freiheit wohl grenzenlos ist. Der Wind ist sein Gesell, mal Atemhauch, mal Sturmgebraus, doch zu fassen kriegt man ihn nicht. Feuerflammen sind seine Boten, Dornbüsche lässt er auflodern im Wüstensand, versprüht zündende Funken und setzt Herzen in Brand auf dem Wege. Heute nutzt er die Chance, die sich ihm zu Pfingsten bietet, um auf sich aufmerksam machen, sich feiern zu lassen, wie es ihm gebührt, und zu zeigen, was in ihm steckt.

Nun, für Überraschungen ist er allemal gut. Deshalb nimmt der Heilige Geist uns heute auch nicht mit nach Jerusalem, um uns die Geschichte seiner glorreichen Ausgießung zu erzählen, sondern führt uns in die Wüste. Dort angekommen, zieht er sich zunächst einmal zurück und gibt die Bühne frei für Mose:

 

[11] Und Mose sprach zu dem HERRN: Warum bekümmerst du deinen Knecht? Und warum finde ich keine Gnade vor deinen Augen, dass du die Last dieses ganzen Volks auf mich legst? [12] Hab ich denn all das Volk empfangen oder geboren, dass du zu mir sagen könntest: Trag es in deinen Armen, wie eine Amme ein Kind trägt, in das Land, das du ihren Vätern zugeschworen hast? [ ... ] [14] Ich vermag all das Volk nicht allein zu tragen, denn es ist mir zu schwer. [15] Willst du aber doch so mit mir tun, so töte mich lieber, wenn anders ich Gnade vor deinen Augen gefunden habe, damit ich nicht mein Unglück sehen muss. [16] Und der HERR sprach zu Mose: Sammle mir siebzig Männer unter den Ältesten Israels, von denen du weißt, dass sie Älteste im Volk und seine Amtleute sind, und bringe sie vor die Stiftshütte und stelle sie dort vor dich, [17] so will ich herniederkommen und dort mit dir reden und von deinem Geist, der auf dir ist, nehmen und auf sie legen, damit sie mit dir die Last des Volks tragen und du nicht allein tragen musst. [ ... ] [24] Und Mose ging heraus und sagte dem Volk die Worte des HERRN und versammelte siebzig Männer aus den Ältesten des Volks und stellte sie rings um die Stiftshütte. [25] Da kam der HERR hernieder in der Wolke und redete mit ihm und nahm von dem Geist, der auf ihm war, und legte ihn auf die siebzig Ältesten. Und als der Geist auf ihnen ruhte, gerieten sie in Verzückung wie Propheten und hörten nicht auf.

 

Zu Pfingsten also Mose. Ohne Zweifel ein Liebling des Heiligen Geistes. Zum Zeitpunkt, da unsere heutige Pfingstgeschichte einsetzt, hat er allerdings die großen Taten bereits hinter sich, die ihn in voller Geistesgröße zeigen könnten: wie er mit der Gewalt seines Arms die Wasserfluten teilt und das Volk Gottes trockenen Fußes auf der sicheren Seite ankommt und die Verfolger untergehen sieht.

Auch die Tage des Tanzes sind vorbei, den seine Schwester, die Prophetin Miriam, am anderen Ufer erfand, voll des Heiligen Geistes.

Die Lieder, die Gott für seine herrlichen Taten priesen, sind lange verstummt. Jetzt ist Wüstenzeit. Und das Volk murrt. Die Freiheit schmeckt ihnen nicht.

Sie wollen keine religiösen Erfahrungen sammeln, nicht pilgern, nicht im Unterwegs zu Hause sein.

Die Spiritualität von Wind, Sand und Sternen, die Kraft der Stille, all das, was die Wüste so reizvoll machen könnte, lässt sie kalt.

Und immer nur Manna, tagaus, tagein, auch das haben sie gründlich satt. Und so tönt es von überall her aus den Lagern: „Wir denken an die Fische, die wir in Ägypten umsonst aßen, und an die Kürbisse, die Melonen, den Lauch, die Zwiebeln und den Knoblauch!" Und zwischen den aufmüpfigen Worten läuft ihnen das Wasser in den Mündern zusammen, denn zuerst käme doch wohl das Fressen und dann vielleicht ...

 

Mose ist der Adressat all ihrer Klagen und Beschwerden. Für alles geben sie ihm die Schuld. Hat er sie nicht herausgelockt mit falschen Versprechungen, hat er sie nicht in diese unmögliche Lage gebracht, hat er ihnen nicht die ganze Misere eingebrockt?

Da steht er nun in faustischer Einsamkeit, ein armer Tor, und spürt die Last dieses ganzen Volkes auf seinen Schultern ruhen. Aus seinen Worten spricht so viel Erdenschwere, man sieht ihn förmlich am Boden zerstört.

Aber auch im Klagen, selbst in verzweifelter Lage, ist er noch geistreich. Sehr geschickt gibt er nämlich seinem Gott zu verstehen, dass er selbst sich doch kümmern möge, es ist schließlich sein Volk, das Volk Gottes, nicht das des Mose, der dazu gekommen ist wie die Jungfrau zum Kind, und nun soll er es hegen und pflegen wie eine Glucke ihre Brut. „Mein Gott, bin ich vielleicht deren Kindermädchen? Bin ich deren Amme? Lieber Gott, ich kann nicht mehr. Es ist mir alles zu viel." Auch vor suizidalen Äußerungen schreckt er nicht zurück, „Lass mich sterben, hör und versteh einer meinen Hilferuf!" Er ist am Ende, der große Mann. Die Luft ist raus. Vor uns steht Mose, ein biblischer Topmanager mit Burn-out.

 

Und von seinen Klagen ermutigt, tauchen neben ihm noch andere auf und bilden nach und nach eine lange Kette der Solidarität. Da stehen Lehrerinnen und Lehrer, die oft ganz allein die Last der Erziehung tragen, misstrauisch beäugt und offen angefeindet von Erziehungsberechtigten aller Art und ohne Unterstützung aus den Chefetagen. Da kommen Ärztinnen und Ärzte nach einer 48-Stunden-Schicht aus dem Krankenhaus. Sie tragen auf ihren Schultern die Lasten einer immer wieder verschleppten Gesundheitsreform. Politikerinnen und Politiker gesellen sich dazu. Sie tragen die Last der Verantwortung. Kaum einer schätzt, was sie hinter den Kulissen leisten, damit ein demokratisches Staatswesen funktioniert. Aber vor den Bildschirmen lästert es sich leicht. Und Pfarrerinnen und Pfarrer sind auch mit von der Partie. Sie kennen die Stunde des Mose, wenn es so weit ist, dass man unter der Last der an einen herangetragenen Erwartungen zusammenzubrechen droht.

 

Was kann dem Mann Gottes und seinen zahlreichen Gefährtinnen und Gefährten helfen? Vielleicht ein Oasenwochenende, das die geschwundenen Kräfte regeneriert? Solche Tipps sind heutzutage ja durchaus beliebt. Ich habe das auch schon von wohlmeinenden Menschen zu hören bekommen: „Machen Sie mal Pause, spannen aus, vergessen Sie die Gemeindearbeit! Denken Sie mal an sich selbst und tun Sie sich etwas Gutes, lassen Sie sich verwöhnen! Sie werden sehen, das wirkt wahre Wunder. Nach so einer Auszeit fühlt man sich wie neu geboren und kann mit ungebremstem Schwung wieder an den Start."

 

Der Heilige Geist hat da freilich noch eine andere Idee. Er belehrt uns zu Pfingsten eines Besseren. Lassen wir uns noch einmal von ihm in die Wüste führen, wo heute die heilsamen Einsichten gewonnen werden.

Da steht immer noch einsam und allein der große Mose. Doch nicht mehr lange. Gott zögert nicht. Er antwortet prompt. Und handelt. Da werden nicht mühsam ein oder zwei, sondern mühelos 70 Männer gesucht und gefunden. Keine Angst vor großen Zahlen! Denn einer allein kann die Lasten eines ganzen Volkes nicht tragen. Einer allein kann die Lasten einer ganzen Gemeinde nicht tragen. Einer allein kann die Lasten eines Landes, eines Systems, einer Reform nicht tragen.

Und das Schöne ist: Es sind tatsächlich immer schon welche da, die auch Talent haben und mit vielerlei Begabungen ausgestattet sind, die wertvolle Erfahrungen gesammelt haben und sich auskennen, Fachleute auf ihrem Gebiet mit Sachverstand und Menschenkenntnis, die wissen, worum es geht. Der Heilige Geist weht keine unbeschriebenen Blätter daher, nicht die Erstbesten, die sich zufällig gerade vor der Stiftshütte tummeln, nicht irgendwelche Dahergelaufenen sind es, sondern Persönlichkeiten, die sich bewährt haben, die auch schon Verantwortung getragen haben. Sie heißen damals wie heute in den Gemeinden „Älteste“.

Ja, es gibt sie längst, die Menschen, die unsere Lasten mit uns tragen. Was muss das für ein göttlicher Moment gewesen sein, als Mose aus der Stiftshütte trat und da diese 70 Männer sich versammelten, die fortan seine Lasten mit ihm tragen würden!

 

Er macht aber an diesem Tag noch eine andere wichtige Erfahrung. Nicht nur die Aufgaben lassen sich aufteilen, nicht nur die Verantwortung ist teilbar, sondern auch der Geist selbst.

Ein paar tausend Jahre später wird ein später Geistesverwandter des Mose die Liturgie zu diesem fantastischen Wüstenauftritt schreiben und es in die paulinischen Worte fassen: „Es sind verschiedene Gaben, aber es ist ein Geist. Und es sind verschiedene Ämter, aber es ist ein Herr. Und es sind verschiedene Kräfte, aber es ist ein Gott, der da wirkt alles in allen." Ganz leicht wird dem Mann Gottes da auf einmal ums Herz, und er hört so ein pfingstliches Brausen. Denn da geraten schließlich alle miteinander in Verzückung und hören nicht mehr auf.

 

Auch dieser Satz gehört zur Geschichte. Protestanten überlesen ihn leicht. Sie machen gern dann Schluss mit den Geschichten, wenn die Aufgaben verteilt sind, gehen los und krempeln die Ärmel hoch. Singen und marschieren mit zusammengebissenen Zähnen dem Herrn von Zinzendorf nach: „Wir woll'n nach Arbeit fragen, wo welche ist, nicht an dem Amt verzagen, uns fröhlich plagen und unsre Steine tragen aufs Baugerüst." - „Halt!", ruft da der Heilige Geist, „heute ist mein Tag, heute tanzt ihr mal nach meiner Pfeife, heute macht ihr auch mal mit. Hört ihr?“ Bevor es wieder ans Schaffen geht und daran, ein Volk durch die Wüste zu führen und die Kirche durch wüste Zeiten, wird erst mal ordentlich und ausgelassen gefeiert. So wie dazumal: „Und als der Geist auf ihnen ruhte, gerieten sie in Verzückung und hörten nicht auf."

 

Der Heilige Geist liebt solche Szenen. Gelegentlich schlägt er gerne über die Stränge. Dann hört's nicht auf, wie im letzten Satz unseres heutigen Predigttextes. Und Gott Vater? Der lächelt weise über die Kapriolen dieses dynamischen Teils seiner selbst.

Und auch unser Herr Jesus Christus weiß genau, wie sehr auch und gerade die Menschen, die sein Gesetz erfüllen, indem sie einer des Anderen Lasten tragen, solche ekstatischen Augenblicke brauchen.

Selbst Mose kann den Augenblick genießen und sagen: „Wollte Gott, dass alle im Volk des Herrn Propheten wären und der Herr seinen Geist über sie kommen ließe!" (V 29)

 

So war es dann ja auch später bei jenem legendären Pfingstfest in Jerusalem. Die Jünger Jesu sind zusammen hinter verschlossenen Türen. Sie können allein das schwere Erbe nicht antreten, das ihr gekreuzigter Herr und Meister ihnen hinterlassen hat. Es ist ihnen zu schwer. Da muss der Heilige Geist kräftig dreinblasen, die Türen aufstoßen und mit göttlichen Flämmchen züngeln, …bis der Funke überspringt und sie herausgehen, aus sich, aus ihren vier Wänden, aus ihrer je eigenen Knechtschaft. Und zu reden beginnen die Sprache der Liebe, die in allen Sprachen verstanden wird, und sie hören nicht mehr auf.

Also lasst uns anfangen und den Heiligen Geist feiern - den Geist, der es nicht für einen Raub hält, Gott gleich zu sein, sondern gerne überspringt und sich willig teilen lässt und dabei nicht weniger wird, sondern immer mehr.