06.03.2022 - Menschenrechte versus Menschenverachtung - tertium non datur! - Predigt zu 2. Kor. 6, 1 - 10 am 1. Sonntag der Fastenzeit (Invokavit) von Pfarrer R. Koller

2. Kor 6,1-10:

1 Als Mitarbeiter aber ermahnen wir euch, dass ihr die Gnade Gottes nicht vergeblich empfangt. 2 Denn er spricht (Jesaja 49,8): «Ich habe dich zur Zeit der Gnade erhört und habe dir am Tage des Heils geholfen.» Siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade, siehe, jetzt ist der Tag des Heils! 3 Und wir geben in nichts irgendeinen Anstoß, damit unser Amt nicht verlästert werde; 4 sondern in allem erweisen wir uns als Diener Gottes: in großer Geduld, in Trübsalen, in Nöten, in Ängsten, 5 in Schlägen, in Gefängnissen, in Verfolgungen, in Mühen, im Wachen, im Fasten, 6 in Lauterkeit, in Erkenntnis, in Langmut, in Freundlichkeit, im heiligen Geist, in ungefärbter Liebe, 7 in dem Wort der Wahrheit, in der Kraft Gottes, mit den Waffen der Gerechtigkeit zur Rechten und zur Linken, 8 in Ehre und Schande; in bösen Gerüchten und guten Gerüchten, als Verführer und doch wahrhaftig; 9 als die Unbekannten, und doch bekannt; als die Sterbenden und siehe, wir leben; als die Gezüchtigten, und doch nicht getötet; 10 als die Traurigen, aber allezeit fröhlich; als die Armen, aber die doch viele reich machen; als die nichts haben, und doch alles haben.

 

Seit letzter Woche ist die Welt, auch unsere, nicht mehr die gleiche! Mit dem brutalen Krieg Putins gegen die Ukraine sind nicht nur die letzten Jahrzehnte deutscher Russlandpolitik an die Wand gefahren worden. Ganz Europa wurde hart aus seinem Dornröschenschlaf geweckt, um festzustellen, dass der globale Konflikt zwischen Demokratien und Autokratien, zwischen Menschenrechten und Menschenverachtung jetzt auch - erstmals seit 1945 - wieder auf dem eigenen Kontinent ausgetragen wird. Der jahrzehntelange Glaube, der übrigens nie ganz uneigennützig war, man könne durch wirtschaftliche Zusammenarbeit die Träume eines Herrn Putin von einem neuen bzw. alten großrussischen Reich und die Ansprüche eines chinesischen Xi Jinping auf Weltherrschaft beschwichtigen, hat sich mit den Schreckensbildern aus der Ukraine in nichts aufgelöst.

Christliche Kirchen, auch wir als lutherische Christen stehen - wie seit dem 2. Weltkrieg nicht mehr - vor der Frage, ob wir bereit sind, alles zu unterstützen, was zur Verteidigung unserer und aller Demokratien notwendig ist. Und was unser genuiner Beitrag dazu ist! Auf Friedensgebete - so wichtig sie sind - allein zu hoffen, wird nicht genug sein!

 

Ja, wir beten zu Gott, dass er die Hilferufe in der Ukraine erhört; dass er treu zu seinem Wort steht, wie es der Name des heutigen Sonntags „Invokavit“ sagt: nämlich jene Worte aus dem 91. Psalm, wo Gott spricht: „Er ruft mich an, darum will ich ihn erhören, ich bin bei ihm in der Not; ich will ihn herausreißen und zu Ehren bringen.“ So der ganze Wortlaut des 15. Verses.

 

Ja, wir hören auf die Worte der Heiligen Schrift! Aber wir wissen, dass die Worte des Apostel Paulus aus einer ganz anderen Zeit, unter ganz anderen Umständen und mit ganz anderer Zielperspektive gesagt wurden. Während Paulus in der Erwartung der nahen Wiederkunft Christi zum Endgericht lebte und predigte, sollte es über 300 Jahre dauern, bis sich die christliche Kirche erstmals über ihre politische Bedeutung und ihren Auftrag in der Welt klarwerden musste.

Was wir heute von den Worten des Paulus im Korintherbrief mitnehmen können ist gleichwohl zeitlos richtig! Denn Veränderung der Welt geht nach christlichem Verständnis nur über die Veränderung des einzelnen Menschen. Kirche Jesu Christi ist nach Paulus entsprechend die Gemeinschaft derer, die sich „in allem …als Diener Gottes (erweisen)“. (V. 4)

 

Mit dem heutigen Sonntag beginnt die Fastenzeit. Gebe Gott, dass wir sie nicht missbrauchen, um uns zu beweisen, dass wir alles im Griff haben und auf Schokolade oder Fernsehen oder Alkohol verzichten können. Bewahre uns Gott vor diesem selbst aufgesetzten Heiligenschein, der bei genauem Hinschauen nur scheinheilig ist. Gebe Gott vielmehr, dass wir im Betrachten der Passion Jesu Christi erkennen, ob wir auch wirklich „in nichts irgendeinen Anstoß“ geben (V3)! Und so auch feinfühlig werden für die aktuellen Leiden in unserer Welt!

 

Heiligenschein oder scheinheilig? Damit hatte auch Paulus zu kämpfen. Gerade ist Paulus in Korinth abgereist, da treten auswärtige Missionare auf. Die sorgen mit Wunderheilungen und charismatischen Inszenierungen für Aufsehen. Viele in der Christengemeinde bestaunen verwundert die fromme Überlegenheit und wie stark Gottes Geist in ihnen scheinbar sein muss! Anders als Paulus stehen die Missionare erhaben über den Dingen der Welt und können packend predigen!

Und wo sie sich selbstbewusst in Heiligkeit kleiden, stellen sie Paulus dazu noch bloß: Der ist doch nur ein kränklicher Schwächling, ist immer weg und predigt nur langweilig. Und seine Botschaft! Gott, der am Kreuz leidet! Eine im wahrsten Sinne „schwache“ Vorführung! Soll das ein Apostel sein?

Und Paulus? Der kann erstmal nicht widersprechen. Will er auch gar nicht. Er schreibt lieber seiner Gemeinde von Korinth einen Brief. Einen Auszug daraus haben wir vorhin gehört.

 

Maske runter! Paulus kennt seine Schwäche und steht dazu. Er ist kein brillanter Redner, da schläft schon mal einer ein! (Apg. 20). Paulus kämpft mit körperlichen Leiden, wird immer wieder bedrängt, verfolgt, eingesperrt. Scheinbar ist sein Apostelsein keine strahlende Erfolgsgeschichte, eher ein „Armutszeugnis“ von Sorgen, Angst, Mühe und Not.

 

Aber offenbart nicht genau das etwas viel Wichtigeres? In seinem Dienst geht es nicht um ihn. Ihm geht es um Gott!

In seinem „Armutszeugnis“ liegt der ganze Reichtum, den Paulus im Glauben hat. Genau da erlebt er Gottes Nähe und Kraft - in sich und in seinem Leben! Eine Kraft, die ihn alle Mühen geduldig tragen lässt. Eine Begeisterung, die ihn antreibt. Eine Zuversicht, die ihn ermutigt.

Aus sich selbst kann Paulus nicht viel vorweisen, aber von Gott her umso mehr! Und so versteht er sich als Apostel, als Zeuge von Gottes Kraft, die in den Schwachen mächtig ist, die Arme reich macht und Traurige froh.

 

Ich bin nur ein Mensch - kein Heiliger, stellt Paulus klar. Andere setzen sich besser in Szene, scheinen wahre Lichtgestalten zu sein, mit übermenschlichen Gaben und Stärken. Die lachen Paulus aus - dürfen sie. Das tut weh, aber es irritiert Paulus nicht. Weil er sich vor Gott geachtet weiß. Andere erzählen Lügen über ihn – das ist beschämend, aber statt sich darauf einzulassen, bleibt Paulus einfach der Wahrheit treu. Er steht zu seiner Menschlichkeit!

 

Wie schafft es Paulus, so demaskierend ehrlich zu sein?

Er schaut auf Jesus, den Christus! Der trägt und erträgt unser Leben bis zum Kreuz. Da lässt Gott alle Masken fallen. Da zeigt er sein wahres Gesicht. Da zeigt er uns ungeschminkt, dass er uns bedingungslos liebt.

Ich frage: Wenn Gott in Jesus aus Liebe Mensch wird, kann es dann etwas Größeres und Göttlicheres geben als Menschlichkeit?

Im Spiegel Jesu Christi entdeckt Paulus die „Torheit vom Kreuz“: Was zählt schon Ansehen vor den Leuten, wenn Gott mich liebevoll ansieht. Wie andere mich beurteilen, ist nicht entscheidend, weil Gott mich im Entscheidenden, in seiner Liebe, freigesprochen hat.

Diese Freiheit erlebt Paulus und er lebt sie: Es macht ihn unabhängig von anderen Menschen. Und frei anderen genauso frei, herzlich und in Liebe zu begegnen. Allen Anfeindungen und Widrigkeiten zum Trotz, traurig, aber allezeit fröhlich – das ist bei Paulus keine fromme Vorstellung, auch kein Widerspruch. Es ist gelebter Glaube, christliche Freiheit, die Paulus da lebt!

 

Entlarvend ehrlich, einfach menschlich und im Glauben frei.

So von Herzen frei möchten wir auch gern leben!

 

Denn wie oft verstecken wir uns selbst hinter einer Maske, auch wenn nicht Fasching ist? Wie oft machen wir gute Miene zum närrischen Spiel, auch wenn einem nicht danach zumute ist. Wir wollen stark sein, erfolgreich, gesund und aktiv, bloß keine Blöße geben, keine Schwäche zeigen. Wir meistern meisterhaft unser Leben und fühlen uns dabei oft so heillos überfordert im verrückten Alltagstreiben. Und wie sieht es tief in uns drinnen aus? Ist hinter der Fassade alles vielleicht doch ganz anders?

Paulus traut sich und steht zu seinen Schwächen. Er versucht, keinen schönen Schein aufrecht zu halten, gibt sich nicht stärker, als er ist. Und gerade darin findet er eine unglaubliche Kraftquelle für sein Leben. Weil er sich als verletzbarer Mensch von Gott geachtet, angesehen, ja, geliebt weiß.

Darin sieht Paulus auch seine Aufgabe als Apostel, seine Mission als Christ: anderen Menschen Mut zu machen zu einem Leben aus der Gnade Gottes - entlarvend ehrlich, einfach menschlich und im Glauben frei.

Genau darum geht es auch in der Fastenzeit! Nicht um heiligen Schein oder fromme Selbstdisziplin. Eher um die Selbsterfahrung im Glauben, die der eigenen Menschlichkeit nachspürt.

Möge die Passion Jesu Christi uns und allen Christen jenen Stachel ins Fleisch setzen, der uns aktiv eintreten lässt in den gegenwärtigen und zukünftigen Kampf zwischen Menschenrechten und Menschenverachtung!