16.01.2022 - Lebendige Gemeinde? - Predigt am 2. Sonntag der Epiphaniaszeit zu Jeremia 14, 1, 3-4, 7-9

„Die Menschheit schafft sich ab“. Diesen alarmierenden Titel trägt das Buch des bekannten Astrophysikers und Naturphilosophen Lesch, das 2020 erschienen ist. In dieser Studie nimmt Harald Lesch eine schonungslose Gegenwartsanalyse vor, fordert ein radikales Umdenken und ein Ende des Raubbaus am Planeten Erde. Ihm zufolge ist vor allem die menschliche Gier und Gleichgültigkeit für den Klimawandel verantwortlich, dessen gravierende Folgen längst unübersehbar sind. Der Wissenschaftler verweist in diesem Zusammenhang unter anderem auf die Eisschmelze an den Polen, die zunehmende Zahl von Wirbelstürmen sowie die immer häufigeren Dürreperioden und die Ausbreitung von Wüsten.
Mittlerweile ist der Klimawandel auch in Deutschland angekommen. Die Dürreperioden in den vergangenen drei Jahren sind vielleicht noch in Erinnerung, ebenso die Hitzerekorde mit Temperaturen über vierzig Grad im Sommer 2019.

In anderen Regionen der Erde stellt sich die Situation noch weitaus problematischer dar als hierzulande. Beispielsweise im Heiligen Land im Herzen des Nahen Ostens. Es droht über kurz oder lang auszutrocknen. Der Wasserspiegel im See Genezareth, der wichtigsten natürlichen Quelle des Landes, ist auf einen historischen Tiefstand gesunken. Schon wird laut darüber nachgedacht, den Wasserverbrauch der einzelnen Haushalte gesetzlich zu limitieren.

Die gegenwärtige Wasserkrise in Israel mag in ihrem Ausmaß besonders dramatisch sein. Das Problem als solches jedoch begleitet die Menschen dort schon seit Urzeiten, da das Heilige Land von jeher zu den trockensten Regionen der Erde gehört.

Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass das Thema Dürre bereits in den biblischen Schriften eine große Rolle spielt. So auch in einem Abschnitt aus der Verkündigung des Propheten Jeremia gegen Ende des siebten Jahrhunderts vor Christus. Dort heißt es:

Lesung: Jeremia 14, 1, 3-4, 7-9
Dies ist das Wort, das der Herr sagte zu Jeremia über die große Dürre. 3 Die Großen schicken ihre Leute nach Wasser; aber wenn sie zum Brunnen kommen, finden sie kein Wasser und bringen ihre Gefäße leer zurück. Sie sind traurig und betrübt und verhüllen ihre Häupter. 4 Die Erde lechzt, weil es nicht regnet auf Erden. Darum sind die Ackerleute traurig und verhüllen ihre Häupter. 7 Ach, HERR, wenn unsre Sünden uns verklagen, so hilf doch um deines Namens willen! Denn unser Ungehorsam ist groß, womit wir wider dich gesündigt haben. 8 Du bist der Trost Israels und sein Nothelfer. Warum stellst du dich, als wärst du ein Fremdling im Lande und ein Wanderer, der nur über Nacht bleibt? 9 Warum stellst du dich wie einer, der verzagt ist, und wie ein Held, der nicht helfen kann? Du bist ja doch unter uns, HERR, und wir heißen nach deinem Namen; verlass uns nicht!

 

Eine schreckliche Dürre hält das Heilige Land zur Zeit Jeremias im Griff. Der Prophet findet dafür prägnante Bilder. Das Erdreich lechzt nach Wasser, die Menschen verhüllen ihre Häupter, die fürsorglichen Muttertiere lassen ihre Jungen im Stich, den robusten Wildeseln geht die Luft aus. Das Elend schreit im wahrsten Sinne des Wortes zum Himmel: „Du bist der Trost Israels und sein Nothelfer. Warum stellst du dich, als wärst du ein Fremdling im Lande und ein Wanderer, der nur über Nacht bleibt?“

Ein erschütternder Hilferuf, verbunden mit einem bitteren Eingeständnis: „Unser Ungehorsam ist groß, womit wir wider dich gesündigt haben.“ Für die Israeliten liegt es auf der Hand, dass die Dürre eine Strafe Gottes für begangene Verfehlungen ist. Und so wenden sie sich nun schuldbewusst an diesen Gott, der allein Hilfe und Rettung bringen kann: „Du bist ja doch unter uns, Herr, und wir heißen nach deinem Namen; verlass uns nicht!“

Die Trockenheit lastet schwer auf Mensch und Tier. Aber womöglich mehr noch als unter der Dürre leidet das Volk unter dem Gefühl der Ferne Gottes!
Denn Israel kennt seinen Gott von früheren Zeiten her ja auch ganz anders – als den Schöpfer und Geber aller guten Gaben, als Retter aus Gefahr und Bedrängnis. Hatte er nicht einst die Seinen aus der ägyptischen Sklaverei befreit? Hatte er sie nicht vierzig Jahre lang in der Wüste am Leben erhalten? Hatte er sie nicht in das Gelobte Land geführt?
Dass er sich nun verbirgt, dass er sein Volk scheinbar ungerührt dem Elend und der Entbehrung aussetzt, darin liegt die tiefste Not der Menschen.

 

Ob der Hilfeschrei des Volkes Israel damals erhört wurde, ist nicht überliefert. Es ist für uns heute auch nicht mehr wirklich von Belang. Viel wichtiger scheint mir, dass die Worte aus dem siebten vorchristlichen Jahrhundert in bestimmter Hinsicht von einer geradezu frappierenden Aktualität sind!

 

Zwar sind wir weit davon entfernt, in den gegenwärtigen Dürreperioden und der gesamten ökologischen Krise eine Strafe Gottes zu sehen. Aber auch wir wissen um den Zusammenhang zwischen der Krise einerseits und unserer menschlichen Schuld andererseits.
Nach wie vor ordnen die Regierungen vieler Länder den Klimaschutz ihren wirtschaftlichen Interessen unter. Umso erfreulicher ist es, dass der Druck auf die politisch Verantwortlichen und auch die Verbraucher mittlerweile gewachsen ist. Es ist vor allem die junge Generation, die ihre Stimme erhebt, weil sie nicht länger tatenlos mitansehen möchte, wie ihre zukünftigen Existenzgrundlagen rücksichtslos zerstört werden.

 

Abgesehen davon ist der biblische Text aber auch noch in anderer Weise aktuell. Stichwort Gottesferne. Vermutlich gibt es keinen gläubigen Menschen, dem die Erfahrung erspart bleibt, von der hier die Rede ist. Die Erfahrung nämlich, dass Gott unvermutet oder auch für längere Zeit weit weg zu sein scheint und sich verbirgt. Auslöser muss keine Naturkatastrophe sein. Bei manchen Menschen mag dieses Gefühl unter dem Eindruck einer schweren Erkrankung entstehen. Bei anderen aufgrund eines unvermuteten Schicksalsschlages, welcher Art auch immer.

 

Ich denke an Martin Luther, der nach allgemeiner Vorstellung doch so etwas war wie ein unerschütterlicher Glaubensheld… - Ganz falsch!
Auch er musste wiederholt Phasen der Gottesferne und seelischen Trockenheit durchstehen; seine zahlreichen körperlichen Leiden haben zweifellos ihren Teil dazu beigetragen. So schreibt er einmal an seinen Freund und Mitstreiter Philipp Melanchthon: „Ich bin mehr als die ganze Woche so im Tod und in der Hölle hin- und hergeworfen worden, dass ich jetzt noch am ganzen Körper mitgenommen bin und an allen Gliedern zittere. Ich habe Christus ganz verloren und wurde von den Fluten und Stürmen der Verzweiflung und der Gotteslästerung geschüttelt.
Aber von den Gebeten der Freunde bewegt, hat Gott begonnen, sich meiner zu erbarmen, und meine Seele aus der tiefsten Hölle herausgerissen. Lass auch du nicht ab, für mich zu beten, wie auch ich es für dich tue. Dein Martin Luther.“

 

So scheint sie wohl von Anfang an zum Glauben dazuzugehören: Die Gottesferne! Gottes Unverfügbarkeit!
Das Volk Israel hat diese Gottesferne im Laufe seiner Geschichte immer wieder durchlebt und auf schmerzhafteste Weise durchlitten.
Martin Luther weiß eindrücklich von seinen Erfahrungen der Gottesferne zu reden.
Und auch niemand von uns ist vor den Fluten und Stürmen gefeit, von denen der Reformator sprach.

 

Vielleicht können wir in solchen Stürmen nichts Besseres tun, als zu rufen und zu beten wie das Volk Israel: „Herr, verlass uns nicht! Hilf doch um deines Namens willen!“

 

Es gibt einen triftigen Grund dafür, dass Israel sich explizit auf den Namen Gottes beruft. Denn mit ihm hat es seine besondere Bewandtnis! Der Name im hebräischen Alten Testament lautet „Jahwe“. Und dieser Name ist nichts weniger als ein Versprechen! Frei übersetzt bedeutet er: Ich werde für euch da sein! Wenn das jüdische Volk an den Namen Gottes appelliert, dann will es damit sagen: Denke daran, was du uns versprochen hast: Du wirst für uns da sein, wenn wir in Not sind! Du wirst uns helfen, wenn wir dich brauchen! Der Gottesname enthält eine wunderbare Zusage. Und wenn Israel Gott an seinen heiligen Namen erinnert, dann beruft es sich auf eben dieses Versprechen.

Nun lehrt aber die Erfahrung, dass Gott nicht immer so rasch und umgehend für uns da ist, wie wir es gerne hätten. Er bleibt der Unverfügbare. Er behält sich vor, wann und wie er unsere Gebete erhört, wann und wie er in unser Leben eingreift.

Umso mehr sind wir als Gemeinde im Glauben aufeinander angewiesen! Wir brauchen einander, auch und gerade dann, wenn unser eigener Glaube mal wieder eine Durststrecke durchläuft. Da ist es unerlässlich, dass andere Schwestern und Brüder uns mit ihrem Glauben, ihrer Liebe und ihrer Fürbitte tragen! Auch davon erzählt der Reformator!

Dietrich Bonhoeffer hat es einmal treffend so ausgedrückt: „Eine christliche Gemeinde lebt aus der Fürbitte der Glieder füreinander oder sie geht zugrunde.“ - Wie wahr!
Das ist der Maßstab, an dem jede Gemeinde, auch unsere, sich selbst prüfen kann, ob sie denn eine wirklich lebendige Gemeinde ist! Oder ob sie lediglich ein weiterer Spielplatz für persönliche Interessen ist.

 

Ich werde nie vergessen, wie tief es mich berührt hat, damals als ich Pfarrer in Kenia war und in eine extrem schwierige Situation geriet, da sagte meine Sprachlehrerin zu mir, ich solle niederknien, sie wolle für mich beten. Dann legte sie mir beide Hände auf den Kopf und betete für mich.

Wenn ich das Evangelium des heutigen Sonntags vom Weinwunder in Kana recht verstehe, dann drückt es diese Wahrheit auf seine Weise aus: Da, wo Menschen im übertragenen Sinne auf dem Trockenen sitzen, kann mitunter die Fülle Gottes erst recht sichtbar werden.

 

Dennoch ist und bleibt es nun mal eine Tatsache, dass Gott unverfügbar für uns ist. Wir haben ihn nie in der Tasche wie einen festen Besitz. Mal ist er nah, mal ist er fern. Das ist genau die Ambivalenz, die unseren Glauben prägt und ihn manchmal auch schwermacht.

Sollten Sie sich also gerade in stürmischen Zeiten befinden, seelisch ausgetrocknet sein wie der Prophet Jeremia es beschreibt, dann hoffe ich für Sie auf eine christliche Gemeinde! Mindestens ein Mensch sollte sich darunter für Sie finden, der von Herzen mit Ihnen und für Sie beten kann!
So sei es! Amen!