25.12.2021 - Gottes Kinder - Predigt am 1. Weihnachtstag zu 1.Joh. 3, 1-6 von Pfr. R. Koller

Der „Wandsbeker Bote“ Matthias Claudius beschreibt in einem Gedicht die Gedanken einer Mutter an der Wiege ihres Kindes:

Schlaf, süßer Knabe, süß und mild!
Du deines Vaters Ebenbild!
Das bist du; zwar dein Vater spricht,
Du habest seine Nase nicht.

Nur eben itzo war er hier
Und sah dir ins Gesicht,
Und sprach: „Viel hat er zwar von mir,
Doch meine Nase nicht.“

Mich dünkt es selbst, sie ist zu klein,
Doch muss es seine Nase sein;
Denn wenn’s nicht seine Nase wär,
Wo hättst du denn die Nase her?

Schlaf, Knabe, was dein Vater spricht,
Spricht er wohl nur im Scherz;
Hab immer seine Nase nicht,
Und habe nur sein Herz!

Bei den Erwachsenen ist es sehr beliebt, bei den Kindern weniger: das Suchen nach Ähnlichkeiten mit den Eltern. Stolz stellen wir Großen fest, dass das Kind die Nase der Mutter hat, die Augen des Vaters oder das Talent der Großeltern. Auch wenn wir uns daran erinnern, dass wir als Kinder es nicht so gern gehört haben. Aber selbst, wenn wir wissen, dass wir den Vergleich mit den eigenen Eltern nicht unbedingt schätzen - wir tun es bei unseren Kindern dann doch.

Und vergleichen sie mit denen, die vor ihnen da waren. Weil es Verbundenheit ausdrückt.

Weil Ähnlichkeiten zeigen: Wir gehören zusammen. Vielleicht auch, weil wir etwas von uns entdecken, das in unseren Kindern weiterlebt.

Im heutigen Predigttext ist zu lesen:
„Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erwiesen, dass wir Gottes Kinder heißen sollen - und wir sind es auch!“

Wie würde die Welt wohl aussehen, wenn sich Menschen nach uns umdrehen würden und sagen würden: Da ist ja ein Kind Gottes! Das sieht man gleich, diese Ähnlichkeit!

Das würde sich bestimmt anders anfühlen als der Satz: Mensch, du siehst einfach aus wie deine Mutter!

Dann wäre es anders bei uns, weihnachtlicher, friedlicher, hoffnungsvoller.

Nur - so ist es leider nicht! Deshalb nun der ganze Predigttext! Ich lese 1. Johannesbrief 3,1-6:

1 Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erwiesen, dass wir Gottes Kinder heißen sollen – und wir sind es auch! Darum kennt uns die Welt nicht; denn sie kennt ihn nicht.

2 Meine Lieben, wir sind schon Gottes Kinder; es ist aber noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden. Wir wissen aber: wenn es offenbar wird, werden wir ihm gleich sein; denn wir werden ihn sehen, wie er ist.

3 Und ein jeder, der solche Hoffnung auf ihn hat, der reinigt sich, wie auch jener rein ist.

4 Wer Sünde tut, der tut auch Unrecht, und die Sünde ist das Unrecht.

5 Und ihr wisst, dass er erschienen ist, damit er die Sünden wegnehme, und in ihm ist keine Sünde.

6 Wer in ihm bleibt, der sündigt nicht; wer sündigt, der hat ihn nicht gesehen und nicht erkannt.


Wir sind Gottes Kinder, und man sieht es uns nicht an.
Verborgene Offenbarung, erwiesene Liebe, die wir einander schuldig bleiben - immer wieder arbeiten die johanneischen Texte sich daran ab, dass die Welt nicht so ist, wie sie sein könnte. Gott ist in sein Eigentum gekommen, und die Seinen haben ihn nicht erkannt. Gott ist geboren und die Welt hat ihn nicht aufgenommen. Gott ist da, aber die Menschen sehen an ihm vorbei.

Vielleicht trifft diese nüchterne Beobachtung unser Gefühl am ersten Weihnachtsfeiertag. Es ist Weihnachten geworden, und doch bleibt alles beim Alten. Jesus ist geboren und Kinder sterben. Die Engel haben der Welt eine große Freude verkündet, und Menschen weinen. Der Himmel singt „Fürchtet euch nicht“, und wir haben Angst. Wir sind Gottes Kinder, und man sieht es uns nicht an.


Am ersten Feiertag müssen wir feststellen: Mit Jesu Geburt ist offenbar geworden, wer wir sind: Gottes Kinder.

Aber eben noch nicht, was wir sein werden: ihm ähnlich.

Niemand dreht sich jetzt nach uns um und ruft: Da ist ja ein Kind Gottes! Ganz der Vater! Nein, viel Ähnlichkeit mit Gott erkennt man nicht an uns. Sonst sähe die Welt anders aus.

Aber - ist das nicht nun mal so bei Kindern? Dass in ihnen viel schlummert, aber was daraus werden wird, das können wir noch nicht erkennen? Wir sind Gottes Kinder, aber wir sind noch nicht, was wir sein werden. Erwachsen werden, das müssen wir noch. Genauso wie unsere Kinder auch.

Darum ist Kind-Sein schwierig. Und anstrengend. Es ist ein ständiges Ringen mit eigenen Erfahrungen. Welcher Stolz, wenn ein Kind es das erste Mal schafft, allein seine Schnürsenkel zu binden oder erste Worte zu lesen. Und wie viel Übung geht dem voraus, Zunge zwischen die Zähne und nochmal. Zum Kind-Sein gehört es, zu lernen. Lernen von denen, die schon weiter sind als ich. Von den Großen. Und es gehört dazu, Fehler zu machen.

Das kann wehtun. Wenn ich mich doch so bemüht habe, und dann reicht es trotzdem nicht. Weil ich es gut gemeint habe und dann doch schlecht gemacht. Es schmerzt, zu erkennen, dass die roten Kugeln am Weihnachtsbaum in Wirklichkeit angebissene Äpfel sind, die uns daran erinnern, dass das Paradies verloren ist. Es erschreckt, dass die Schlange uns immer noch ständig zuraunt: „Werde wie Gott!“ und uns damit immer wieder in die verkehrte Richtung lockt. Indem sie uns mit ihrem steten Flüstern vergessen lässt, was wir doch eigentlich wissen müssten: dass wir Gottes Kinder sind, Menschen, die füreinander da sein sollen und nicht für sich selbst.

Und dass wir nicht wie Gott werden, indem wir uns um uns selbst bemühen, sondern nur, indem wir kindliches Vertrauen üben. Indem wir in der Verheißung leben, dass Gott uns zu dem werden lässt, was wir sein sollen: Ebenbilder des liebenden Vaters, der liebenden Mutter!

Und in Jesus Christus schenkt Gott uns Wurzeln, von denen aus wir ins Leben aufbrechen können.


So wie wir es doch auch bei unseren Kindern tun: Wir wissen nicht, was aus unseren Kindern wird, aber wir hoffen, dass das, was wir ihnen beibringen, sie zu guten Menschen macht. Wir wünschen uns, dass sie Wurzeln haben, die ihnen Kraft geben, den richtigen Weg zu gehen. Weil wir wissen, dass es nicht leicht ist, im Leben zu stehen und das Leben zu bestehen.

Wir sehen, dass die Möglichkeiten unserer Kinder, aber noch viel mehr die der vielen Kinder in anderen Ländern unserer Erde begrenzt sind. Je nachdem, wo sie geboren werden, wer ihre Eltern sind oder später ihre Freunde, werden sie ihr Leben meistern oder eben auch nicht, werden Menschen Möglichkeiten eröffnet oder eben auch nicht.

Und selbst, wenn uns hier viele Türen offenstehen, so bedeutet jede Tür, durch die wir gehen, dass viele andere sich schließen. Offene Türen oder von vornherein verstellte Möglichkeiten prägen das Leben. Herkunft ist entscheidend dafür, was einmal aus einem Menschen werden kann.

Deshalb gehören auch diese Fragen zu Weihnachten:

Wer bin ich geworden und warum? Wes Geistes Kind bin ich, und will ich das eigentlich sein? Wo habe ich meine Wurzeln, habe ich sie gekappt oder ziehe ich aus ihnen Kraft? Was ist schief gelaufen in meinem Leben und was ist gut gelungen?

In diese Fragen nach mir selbst hinein sagt unser Predigttext: Egal, woher du kommst, egal, wer du bist, welche Möglichkeiten dir das Leben bietet oder verschließt: Du bist ein Kind Gottes!

Das sind unsere Wurzeln als Christinnen und Christen, das soll uns Halt geben in einer Welt, die weit entfernt ist von paradiesischen Zuständen.

Das ist die Freiheit, aus der wir leben dürfen inmitten all der Zwänge, in denen wir stecken!

Wir sind mehr als unsere soziale Herkunft, mehr als unser Können und Vermögen, mehr als die Möglichkeiten, die wir in unserem Leben ausgeschöpft oder versäumt haben! Sosehr auch Herkunft prägt im Guten wie im Schlechten - es ist nicht das, was über das Leben entscheidet!

Kinder Gottes sind wir! Unsere Herkunftsfamilie als Christinnen und Christen, das ist die Familie Gottes weltweit und zu allen Zeiten! Das sind unsere Wurzeln, die uns stark machen.

Kinder sind wir, die wissen, wo sie hingehören, auch wenn sie noch nicht wissen, was einst aus ihnen werden wird. Wir sind Menschen, die sich üben dürfen im Vertrauen, so wie Kinder es uns vormachen. Wir sind Menschen, die sich ausprobieren dürfen und sich darauf verlassen dürfen, dass uns Dinge zuwachsen, wenn wir nur hineinwachsen in den Glauben, wenn wir wachsen im Gottvertrauen.

Ein Kind Gottes zu sein bedeutet, noch hinein-zuwachsen in das, woher wir kommen. Und darauf hoffen, dass mir zuwächst, was ich brauche.

Zum Gottes-Kind-Sein gehört darum auch, immer wieder von vorn anzufangen. Noch einmal beginnen. Wir wissen um die Fehler, die wir machen. Und wir spüren, dass da so viel ist, was das Leben bedroht. Aber weil wir das wissen, feiern wir heute: Den, an dem wir Gotteskinder uns orientieren, bei dem wir immer wieder neu anfangen und von vorne beginnen können.

Denn zwar ist an uns noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden. Aber an ihm schon: an dem Kind in der Krippe, das wir heute feiern. Jesus von Nazareth zeigt uns durch seine Geburt, sein Leben, Sterben und Auferstehen, wie Gott ist: väterlich liebend! Und nach ihm haben sich Menschen ja umgedreht und gesagt: Ganz der Vater!

Ganz der Vater war er, der zu denen gegangen ist, die am Rand der Gesellschaft standen. So wie er selbst am Ende der damaligen Welt geboren wurde, in einem kleinen, vergessenen Provinznest am Rande des Römischen Reiches. Jesus, der Frauen einlud, dabei zu sein und mitzureden, und dessen Auferstehung die Frauen verkündigten. Jesus, der Kindern die Hand auf- und den Erwachsenen ans Herz legte, sich an den Kindern ein Beispiel zu nehmen. Der die Grenzen des Anstands überschritt, indem er mit denen aß, die ehrlos waren. An ihm wurde offenbar, was es bedeutet, dass Gott uns Menschen liebt. Als seine Kinder!

Von der Hoffnung leben wir, dass wir in ihm verwurzelt sind, dass er der Ursprung unseres Lebens ist, dass wir von ihm kommen und zu ihm gehen. Dass wir den im Blick haben, von dem wir sagen: Ganz der Vater. Wir haben vielleicht noch nicht seine Nase, aber er schenkt uns dafür sein Herz. Damit wir ihm ähnlich werden. Und den Engeln Glauben schenken können, die uns sagen, was bis an die Enden der Erde gilt: „Fürchtet euch nicht, euch ist heute der Heiland geboren.“