24.10.2021 - Die Verwerfung des ersten Steins - Predigt zu Joh. 8. 3-11 von Pfarrer R. Koller

Joh. 8. 3-11:

3 Da brachten die Schriftgelehrten und die Pharisäer eine Frau, beim Ehebruch ergriffen, und stellten sie in die Mitte 4 und sprachen zu ihm: Meister, diese Frau ist auf frischer Tat beim Ehebruch ergriffen worden. 5 Mose hat uns im Gesetz geboten, solche Frauen zu steinigen. Was sagst du? 6 Das sagten sie aber, um ihn zu versuchen, auf dass sie etwas hätten, ihn zu verklagen. Aber Jesus bückte sich nieder und schrieb mit dem Finger auf die Erde. 7 Als sie ihn nun beharrlich so fragten, richtete er sich auf und sprach zu ihnen: Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie. 8 Und er bückte sich wieder und schrieb auf die Erde. 9 Als sie das hörten, gingen sie hinaus, einer nach dem andern, die Ältesten zuerst; und Jesus blieb allein mit der Frau, die in der Mitte stand. 10 Da richtete Jesus sich auf und sprach zu ihr: Wo sind sie, Frau? Hat dich niemand verdammt? 11 Sie aber sprach: Niemand, Herr. Jesus aber sprach: So verdamme ich dich auch nicht; geh hin und sündige hinfort nicht mehr.

 

Der Welttag gegen die Todesstrafe wird seit dem Jahr 2003 jährlich am 10. Oktober begangen. Seit 2007 ist dieser Tag in Europa auch der Europäische Tag gegen die Todesstrafe. Das war heute vor zwei Wochen als wir in der Hospitalkirche Jubelkonfirmationen feierten.

Hintergrund ist der Kampf gegen die Todesstrafe, deren weltweite Abschaffung gefordert wird.

Der Welttag gegen die Todesstrafe wurde im Jahr 2003 erstmals begangen. Initiatoren waren die Weltkoalition gegen die Todesstrafe und Amnesty International. Für Europa beschloss das Ministerkomitee des Europarates am 26. September 2007, den 10. Oktober auch als europäischen Gedenktag zu begehen.

49 Staaten halten nach wie vor an der Todesstrafe fest.

In der weltweiten Bilanz zur Todesstrafe 2020 von Amnesty international fanden die meisten Hinrichtungen in China, Iran, Ägypten, Irak und Saudi-Arabien statt – in dieser Reihenfolge. Es ist davon auszugehen, dass die mit Abstand meisten Hinrichtungen weltweit in China vollstreckt wurden – doch ist das wahre Ausmaß der Anwendung der Todesstrafe in China nicht bekannt, da diese Informationen als Staatsgeheimnis behandelt werden. So sind die Tausende von Hinrichtungen, die in China mutmaßlich vollzogen wurden, in der globalen Zahl von mindestens 483 im Jahr 2020 vollstreckten Todesurteilen nicht enthalten. Weitere Informationen dazu kann man online nachlesen bei Amnesty international und bei Wikipedia.

 

Ja, es gibt Sachen, die gibt es nicht, die darf es nicht geben! Es gibt grausame Taten, die übersteigen unser Vorstellungsvermögen, die sprengen selbst den weit gesteckten Rahmen unserer Toleranz, die können und wollen wir nicht hinnehmen.

Da ist ein junges Mädchen, fröhlich, voller Ideen, es hat das ganze Leben noch vor sich. Eigentlich will es nur Enten füttern gehen, doch es kommt nicht mehr zurück. Später findet man die Leiche. Hilflosigkeit und Entsetzen machen sich breit.

Was für ein Mensch ist das, der zu solcher Grausamkeit fähig ist? Kann man so jemanden noch einen „Menschen“ nennen, der so Unmenschliches getan hat? Hat er nicht sein Recht verwirkt, ein Mensch zu sein? Ist nicht sein Leben verwirkt in dem Moment, in dem er dem Leben eines Kindes erbarmungslos ein Ende gesetzt hat?

Das Entsetzen sucht sich seinen Weg, es will heraus aus dem Kreislauf der Gedanken: Am Stammtisch und im Internet wird der Ruf nach der Todesstrafe laut.

 

In der Bundesrepublik Deutschland ist die Todesstrafe seit ihrer Gründung im Jahr 1949 mit Artikel 102 des Grundgesetzes abgeschafft, so wie mittlerweile in 144 Staaten auf der Welt.

Die Todesstrafe ist in der Regel ein Versuch, die Gerechtigkeit wiederherzustellen, sie ist Vergeltung, manchmal pure Rache, immer wieder als präventive Maßnahme behauptet. Der Täter soll keine Gelegenheit bekommen, wieder tätlich zu werden und andere potentielle Täter sollen abgeschreckt werden. So ist das seit alters her, ja, die Todesstrafe hat auch in der Bibel eine Tradition.

Denn „wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll auch von Menschen vergossen werden“ (1.Mose 9,6). Das steht so schon am Anfang der Bibel. Gott sagt das zu Noah, der nach der Sintflut unter dem Regenbogen steht. Gott wagt mit Noahs Familie einen Neuanfang. Zuvor hatte er mit den Menschen, die er als sein Ebenbild geschaffen hatte, schlechte Erfahrungen gemacht und erlebt, dass „alles Dichten und Trachten ihres Herzens immer nur böse war“ (1.Mose 6,5). Bei diesem zweiten Versuch mit den Menschen nach der Sintflut benennt er deutlich die Grenze seines Toleranzbereichs: Die Tötung eines Menschen soll der Täter nicht überleben.

Doch im Laufe der Menschheitsgeschichte, so wie die Heilige Schrift sie beschreibt, bleibt es nicht bei dieser Form der Blutrache! Der Umgang mit dem gewaltsamen Tod und anderen Delikten führt letztlich zu einem geordneten Rechtsverfahren. Die biblische Aufforderung, die schon sprichwörtlich geworden ist, „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, veranschaulicht die Entwicklung zum sogenannten Talionsrecht. Dort heißt es: „Du sollst geben Leben um Leben“ (2. Mose 21,23f). Jetzt geht es nicht mehr unbedingt um die Schädigung bzw. Tötung des Täters, sondern um einen angemessenen Schadensersatz für die Opfer. Wie genau dieser Schadensersatz aussehen kann, regeln Gerichte.

Verbrechen, die als besonders schwer eingestuft werden und die Gemeinschaft bzw. die Identität des Volkes bedrohen, werden mit dem Tod bestraft; so z. B. Zauberei, Inzest und Menschenopfer, aber auch Ehebruch.

Mit der gesetzlich vorgeschriebenen Steinigung einer Ehebrecherin wird Jesus ja einmal konfrontiert (Joh. 8,3–11). Die Schriftgelehrten wollen sehen, ob dieser Jesus, der als Ideal und Maßstab für das eigene Handeln das Doppelgebot der Liebe nennt, sich nun an das Gesetz hält oder sich für das Leben einsetzt. Und Jesus verblüfft seine Herausforderer damit, dass er beides tut! Er stellt das Gesetz nicht in Frage, macht aber die Vollstreckung des Todesurteils an der eigenen Sündlosigkeit fest: „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.“

Die Schriftgelehrten verharren reglos, sie werden nachdenklich. Und keiner wagt es, den ersten Stein zu werfen. Und auch Jesus selbst wirft nicht den ersten Stein, obwohl er dazu doch berechtigt wäre. Er entlässt die Frau mit einer Aufforderung: „Sündige hinfort nicht mehr!“ Sie bekommt eine zweite Chance.

In den folgenden Jahrhunderten hält die junge Kirche dementsprechend die Todesstrafe nicht für zulässig und will sich nicht an Todesurteilen und Hinrichtungen beteiligen.

 

Als das Christentum dann im 4. Jahrhundert zur Staatsreligion wird, gehört es zu den Aufgaben der Bischöfe, aus seelsorgerlichen Gründen für die zum Tode Verurteilten einzutreten: Die Verbrecher sollen die Möglichkeit haben, Buße zu tun, argumentiert der Kirchenvater Augustinus. Außerdem fordert er in Kontinuität zu Jesus, dass nur unanfechtbar makellose Richter das Todesurteil verhängen dürfen. Gleichzeitig wird in der entstehenden Reichskirche die Todesstrafe fortan als durchaus probates Mittel der Rechtsprechung angesehen und wird nicht als Gegensatz zu dem Gebot „Du sollst nicht töten“ gesehen.

In der Zeit des Mittelalters ist die Todesstrafe für die römisch-katholische Kirche wie selbstverständlich die mögliche Strafe für bestimmte Verbrechen. Im Namen Jesu Christi werden sowohl im Rahmen der gewaltsamen Christianisierung als auch später bei den Kreuzzügen ohne Unrechtsbewusstsein Menschen getötet. Bis schließlich die Kirche selbst die Hinrichtungen für Ketzer durchsetzt und Todesurteile von Bischöfen verhängt, die dann von staatlicher Gewalt vollstreckt werden.

 

Anzumerken ist, dass in der orthodoxen Kirche Hinrichtungen als hinderlich für die Ausbreitung der guten Botschaft empfunden und mehr und mehr reduziert wurden.

 

In der Zeit der Reformation liegt der Fokus auf dem „allein aus Gnade“, allerdings ohne dass dieses Bekenntnis Auswirkungen auf das staatliche Strafrecht hatte. Im Augsburger Bekenntnis von 1530, der Confessio Augustana, wird die Ausübung der Todesstrafe für Christen explizit erlaubt (Artikel XVI) – nachzulesen in jedem evangelischen Gesangbuch.

Leider muss man festhalten, dass - so sehr sich die Kirchen der Reformation Toleranz für sich wünschten - so wenig tolerant waren sie selbst anderen Konfessionen gegenüber und untereinander.

 

Letztendlich erhebt nicht die Kirche als Erste ihre Stimme gegen die Todesstrafe, sondern der Rationalist Cesare Beccaria aus Italien. In der Mitte des 18. Jh. schreibt er: Strafe hat nicht den Zweck, „ein empfindendes Wesen zu quälen und zu betrüben, noch ein bereits begangenes Verbrechen ungeschehen zu machen (…), (sondern) den Verbrecher daran zu hindern, seinen Mitbürgern neuen Schaden zuzufügen und die anderen von gleichen Handlungen abzuhalten“. Deshalb plädiert er für angemessene Strafen, die einen nachhaltigen Eindruck auf die Menschen machen und dem Verurteilten möglichst wenig körperlichen Schaden zufügen.

Seine Stimme wird zwar gehört, doch erst nach dem Zweiten Weltkrieg wird die Abschaffung der Todesstrafe ernsthaft diskutiert und seitdem in immer mehr Ländern der Welt umgesetzt.

In unserem Rechtsstaat erscheint die Unmöglichkeit der Todesstrafe als selbstverständlich, und nur in Ausnahmefällen werden Stimmen laut, die die Einführung der Todesstrafe fordern. Wie nach der Ermordung von Kindern. Die Betroffenheit und das Entsetzen sind darin zu hören, aber oftmals sind es Rechtsextremisten, die zuerst mit dieser Forderung laut werden und versuchen, Wut und Trauer der Menschen für ihre eigenen politischen Ziele zu nutzen.

 

„Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein“. So die Stimme unseres Herrn Jesus.

Und selbst wenn schon Steine fliegen, wenn schon andere nach der Todesstrafe schreien, dann liegt es immer noch an uns, zu prüfen, wem wir gehorsam sind: der Macht der Sünde oder unserem Herrn Jesus Christus.

Ja, es gibt durchaus Verbrechen, mit denen ein Mensch in unseren Augen und mit dem Maßstab des Gesetzes sein Leben verwirken kann. Doch liegt es nicht an uns, das endgültige Urteil zu vollstrecken. Das letzte Urteil über Leben oder Tod liegt in den Händen des Einen, der allein ohne Sünde ist.

Unsere Aufgabe ist es, uns in Demut zu üben und nicht den ersten Stein zu werfen.