15.08.2021 - „Alles ist Gnade“ (Theodor Fontane) – Predigt am 11. Sonntag nach Trinitatis zu Eph. 2, 4-10 von Pfarrer R. Koller

4 Aber Gott, der reich ist an Barmherzigkeit, hat in seiner großen Liebe, mit der er uns geliebt hat,

5 auch uns, die wir tot waren in den Sünden, mit Christus lebendig gemacht - aus Gnade seid ihr selig geworden -;

6 und er hat uns mit auferweckt und mit eingesetzt im Himmel in Christus Jesus,

7 damit er in den kommenden Zeiten erzeige den überschwänglichen Reichtum seiner Gnade durch seine Güte gegen uns in Christus Jesus.

8 Denn aus Gnade seid ihr selig geworden durch Glauben, und das nicht aus euch: Gottes Gabe ist es,

9 nicht aus Werken, damit sich nicht jemand rühme.

10 Denn wir sind sein Werk, geschaffen in Christus Jesus zu guten Werken, die Gott zuvor bereitet hat, dass wir darin wandeln sollen.

 

Als Prediger in meinem Alter kommt es immer wieder vor, dass man über einen Bibeltext schon einmal gepredigt hat. Dann liest man natürlich seine alte Predigt und fragt sich, was davon heute noch Bestand haben könnte. In meiner damaligen Predigt zu Eph. 2, 4-10 im Jahr 2015 habe ich versucht, den überschwänglichen Reichtum Gottes, mit dem er uns in Jesus Christus beschenkt, anhand der Begriffe im besagten Textabschnitt zu erläutern:

  • Gott ist reich an Barmherzigkeit.
  • Gott ist reich an Liebe.
  • Gott ist reich an Gnade.
  • Gott ist reich an Güte.

Ich habe damals versucht, diese Aussagen mit beispielhaften Erzählungen aus den Evangelien zu veranschaulichen…und wusste jetzt beim Lesen sehr schnell, dass ich diese Predigt heute nicht wieder halten will – einfach deshalb, weil mir schien, dass ich mit den Erzählungen aus den Evangelien nur Eulen nach Athen tragen würde.

Also habe ich mich anders umgeschaut und bin nach einiger Suche auf einen Satz von Theodor Fontane gestoßen, der mich berührt hat: „Je älter ich werde, je tiefer empfinde ich, alles ist Glück und Gnade, das Kleine so gut wie das Große …“

So schrieb es 1883 der damals 66-Jährige an seine Frau Emilie.
„Alles ist Gnade.“ - Das ist mehr als die Altersweisheit eines Schriftstellers, der erst in späten Lebensjahren zu einigermaßen sicherem Ruhm und Wohlstand gelangt war. Manche Umwege hatte er dabei zurückzulegen. Erst spät hatte sich der Erfolg eingestellt und auch die finanziellen Verhältnisse waren lange prekär gewesen. Genug Gelegenheit eigentlich, die eigene Mühe und Begabung in den Mittelpunkt zu stellen. Wer wollte es übel nehmen, sich nach mühsam errungenen Erfolgen nicht einmal auf die Schulter zu klopfen?
Stattdessen: Alles ist Gnade.

So steht es – in einer langen und komplizierten Satzkonstruktion - im Epheserbrief! Aus Gnade, gerettet, nicht aus uns selbst heraus! Angenommen in dem Weg, den Jesus Christus zwischen Himmel und Erde, Tod und Leben gegangen ist!


Was ich an Fontanes Romanen so mag, ist sein behutsamer, fast liebevoller, gnädiger Blick für das Kleine wie das Große. Er liebt das Leben in seinen Widersprüchen. Und zeichnet das fein in seine Charaktere ein. Es sind in der Regel angeschlagene und darin gerade oft liebenswerte, bisweilen auch tragische Existenzen.
Eine meiner ersten Schullektüren aus Fontanes Feder war natürlich Effi Briest. Mit 15 oder 16 konnte ich nicht viel damit anfangen. Erst viel später habe ich, losgelöst von den Zwängen des Deutschunterrichtes, dieses Buch wirklich gelesen. Seitdem ist es mir lieb und teuer.


Fontane zeigt mit der auf einer wahren Begebenheit beruhenden Geschichte der jungen Adeligen Effi Briest einen Menschen, der durch gesellschaftliche Umstände und durch eigene Entscheidungen zerbricht. In ihrem Fall die unglückliche Vermählung mit dem deutlich älteren Baron von Innstetten und eine Affäre mit dessen Freund Crampas, die erst viele Jahre später eher durch Zufall ans Licht kommt, und Innstetten, der Crampas in einem Duell tötet, sowie Effi beschädigt zurücklässt. Es ist in ihrer Konsequenz eine gnadenlose Geschichte, an der Effi schließlich zerbricht.

Fontanes Charaktere sind angeschlagene Menschen, in vielfacher Hinsicht. Sie bedürfen des barmherzigen Blickes.

Und gerade die Verletzlichen, die vermeintlich Gebrochenen sind der wahren Liebe und der Vergebung fähig!

Denn so sehen wohl Werke der Gnade aus. Was der gnadenlos konsequente Innstetten nicht vermag, das gelingt Effi – nämlich ihm zu vergeben. So sagt sie es ihrer Mutter kurz vor ihrem Tod: „Lass ihn wissen, dass ich in dieser Überzeugung gestorben bin. Es wird ihn trösten, aufrichten, vielleicht versöhnen. Denn er hatte viel Gutes in seiner Natur und war so edel, wie jemand sein kann, der ohne rechte Liebe ist.“

Alles ist Gnade. Diese oft nur schwer zu gewinnende Einsicht lässt einen versöhnten Blick auf sich selbst und diese Welt zu. Ohne dabei die eigene Verletzlichkeit sowie die Wunden dieser Welt zu vergessen. Nichts soll geschönt oder gar verdrängt werden. Aber dieser neue, alles andere als naive, gnädige, liebevolle Blick auf die Welt ist ein Geschenk. Dieser Blick schaut noch einmal genauer hin. Er bewahrt vor Selbstüberschätzung ebenso wie vor grundsätzlicher Weltabgewandtheit.

Alles ist Gnade. Im Epheserbrief verbindet sich das mit Weg und Geschichte Jesu und dem Bild, dass wir Menschen nicht unser eigenes, sondern Gottes Werk sind. Mit allen Höhen und Reichtümern des eigenen Lebens, aber auch allen Unzulänglichkeiten und Fehlern, die uns anhaften.

Effi Briest erfährt die Zusage dieses grundsätzlichen Jas in einem zutiefst seelsorgerlichen Gespräch mit ihrem alten Pastor Niemeyer – einer jener typischen und mit viel Sympathie gestalteten Pfarrer im Werk Fontanes. Wie als Kind schwingt sich die kranke Effi noch einmal auf einer Schaukel in die Lüfte, fröhlich und unbeschwert. Sie springt herab und steht neben Niemeyer. Der sagt zu ihr:
„Effi, du bist doch noch immer, wie du früher warst.“
Darauf antwortet Effi: „Nein, ich wollte, es wäre so. Aber es liegt ganz zurück. … Ach, wie schön es war, und wie die Luft mir wohltat; mir war, als flög‘ ich in den Himmel. Ob ich wohl hineinkomme? Sagen Sie mirʼs, Freund, Sie müssen es wissen. Bitte, bitte …“
Niemeyer nahm ihren Kopf in seine zwei alten Hände und gab ihr einen Kuss auf die Stirn und sagte: „Ja, Effi, du wirst.“