13.12.2020 - "Wegbereiter des Herrn" - Predigt am 3. Advent zu Lk. 1, 67-79 (Pfarrer R. Koller)

Der Evangelist Lukas bezeichnet seine Arbeit als die eines Chronisten (Lk. 1,3), aber, liebe Gemeinde, er ist viel mehr als das! Lukas komponiert mit seinem Evangelium und seiner Apostelgeschichte eine große Erzählung, die - Zeiten und Räume durchschreitend - von den Anfängen der Geschichte Israels bis nach Rom reicht: in Erwartung einer unausdenkbar neuen Zeit des Reiches Gottes. Dabei beabsichtigt Lukas ein „Zugleich“ von geistig durchdrungener Rückschau und Voraussicht, um so Jesus Christus als die „Mitte der Zeit“ erzählerisch vor Augen zu malen.

Der Blick zurück, der Blick nach vorne…das kennzeichnet auch den Advent 2020. Wir haben ein Jahr erlebt, in dem durch Corona die großen Fragen nach dem Sinn und Wesen menschlichen Lebens wieder auf dem Tisch lagen, und das nicht nur im Raum von Kirche oder Religion, sondern in jeder besseren Tageszeitung.
Deutlich wurde, dass die scheinbar „nur“ politischen Fragen der sozialen Teilhabe und Gerechtigkeit, national, europäisch und global, die Friedensfrage, die Fragen von Migration und Flüchtlingsströmen, das Problem der Erderwärmung und des Klimawandels … dass diese globalen Herausforderungen nur die eine Seite der Medaille sind, auf deren anderer Seite es letztlich um Menschenwürde und Lebensrecht geht. Oder wie Dietrich Bonhoeffer es auf den Begriff brachte: Es geht darum, wie auch das „Vorletzte“ mit dem „Letzten“ zusammenhängt.

„Bereitet dem Herrn den Weg; denn siehe, der Herr kommt gewaltig!“ (Wochenspruch Jes. 40) Auch Dietrich Bonhoeffer sprach in seinen Ethik-Fragmenten von der „Wegbereitung“. Er meinte damit die Notwendigkeit, dem „Letzten“ den Weg bahnen zu müssen durch konkretes, verantwortliches Handeln im „Vorletzten“. Ich zitiere: „Es gibt ein Maß an Macht, an Reichtum, an Wissen, die für Christus und seine Gnade ein Hindernis sind. ‚Was krumm ist, soll richtig werden.‘ Der Weg Christi ist ein gerader Weg, Es ist ein Maß der Verbiegung und Verstrickung in die ­Lüge, in die Schuld, in die eigene Arbeit, das eigene Werk (Ps 9,17), in der Selbstliebe, das das Kommen der Gnade besonders schwer macht“.

Aber nun zu unserem heutigen Predigttext!

„Zacharias“ bedeutet: Gott hat seiner gedacht. Voller Liebe gedacht. Mit dem Lobgesang des Zacharias beendet der Evangelist Lukas seine Vorrede. Gleich danach wird es sich begeben, „dass ein Gebot ausging von dem Kaiser Augustus…“

In der großen Manier eines geschichtskundigen Erzählers spielt Lukas auf der Klaviatur von mindestens 1000 Jahren Geschichte des Volkes Israel. Mit wenigen Worten, mit ausgewählten Namen und Begriffen lässt der Erzähler in wissenden Hörern und Lesern auf kurzem Raum Dutzende von biblischen Geschichten anklingen, Inhalte der Tora und Institutionen wie den Tempel und seine Priester.

In einer Predigt ließe sich das alles gar nicht ausführen. Der Predigttext ist eigentlich eine Einladung zu einer Gesprächsreihe.

Zacharias selbst wird uns als Priester vorgestellt. Damit ist ein erster Akzent gesetzt. Lukas bringt den Tempel in Jerusalem ins Spiel. Der spielt eine zentrale Rolle für seine Sicht der Ereignisse. Denn zur Zeit des Lukas gibt es den Tempel nicht mehr. Lukas schaut also zurück und versucht zu verstehen, was da schiefgelaufen ist, wo die entscheidenden Weichenstellungen waren, an denen die Verantwortlichen und Maßgeblichen, die Mächtigen, vielleicht auch das Volk, falsch abgebogen sind.

Ich glaube, das ist die gleiche Frage, die Dietrich Bonhoeffer 1944, am Ende der Katastrophe von zwölf Jahren NS-Diktatur, Krieg und Terror gestellt hat: Wer ist Jesus Christus für uns heute eigentlich?

Für uns heute …?

Zurück zur lukanischen Erzählung:
Während Zacharias zelebrierte, nach den alten Regeln, nach der Tora, gedachte Gott seiner, denn es erschien dem überraschten Mann ein Engel. Die religiöse Zeremonie öffnete sich ungeahnt und plötzlich zum Transzendenten hin. Der da gerade „religiöse“ Verrichtungen tat, wie gewohnt, alles in der vorgeschriebenen Reihung, alles wohl bedacht und würdig, erlebt das „tremendum et fascinosum“ des Heiligen (Rudolf Otto): jenes „von Gott“, das so faszinierend wie zu Tode erschreckend ist - das eine nicht ohne das andere!

Die „Reihe“ beginnt nun mit dem Erschrecken des Zacharias vor dem „Heiligen“. Das in Erinnerung zu behalten ist wichtig, um dann später auch den „Lobgesang des Zacharias“ würdigen zu können, in dem dieser zu Tode Erschrockene und tief Erschütterte dann Gott preist und hymnisch redet, als hätte er alles genau verstanden, was er da sagt, als ginge es ihm leicht und selbstverständlich von den Lippen. Keineswegs so! Zacharias – womöglich kennen Sie die Geschichte – muss durch Gottes Engel verstummen, buchstäblich Monate lang „den Mund halten“, ehe er dann seinen Lobgesang anstimmen kann.

Der mächtige Priester, der Mann, der was „zu sagen hat“, und der nun eben nichts mehr zu sagen hat, der verstummt, weil er nicht „glauben“ konnte, weil er zu viel „wusste“ von Gott und seiner Tora und vom Heiligen, weil er ein so guter Schriftgelehrter war …

„Es gibt ein Maß an Macht, an Reichtum, an Wissen, die für Christus und seine Gnade ein Hindernis sind“, meinte Dietrich Bonhoeffer 1940 und sprach davon, dass es, damit die Gnade Christi zu uns kommen kann, in gewisser Weise auch eine Wegbereitung braucht, ein den Weg Jesu Christi sozusagen bahnendes Handeln.

Ja, ein bestimmtes Handeln ist erforderlich, damit die Gnade, damit der Christus gewissermaßen bei mir, bei uns ankommt. Das fängt immer bei der Selbstprüfung an, auf welch krummen Wegen man geht, ob man in einer gewissen Bequemlichkeit stecken geblieben ist, womöglich allzu überzeugt von sich selbst, hier und da rücksichtslos mit Menschen umspringt, gerne auch das eigene Schäfchen auf Kosten anderer ins Trockene führt, Sündenböcke sucht…statt sich der komplexen Wirklichkeit zu stellen – in uns drinnen, wie um uns herum. Es geht doch immer auch darum, sich eigener Mitverantwortung und Schuld zu stellen!

Aber zurück zu Zacharias! Der versteht zunächst überhaupt nicht, was hier Sache ist. Sein Gebet sei erhört worden, sagte der Engel. Seine Frau Elisabeth werde ein Kind bekommen, einen Sohn. Den solle er „Johannes“ nennen, was bedeutet: „Gott ist gnädig“. Der werde, sagt der Engel weiter, „groß sein vor dem Herrn“, dabei als Asket leben und statt vom Wein vom „heiligen Geist“ erfüllt werden (Lk. 1,15) von Geburt an. Er werde eine Wiederverkörperung des großen Propheten Elia sein und aus Unrecht-Tuenden rechtschaffene Leute machen und Generationen zusammenführen. So werde er das Volk vorbereiten und geistig ausstatten für den Herrn.

Zacharias will eine Beglaubigung vom Engel. Die Sache ist so schwer zu glauben, dass es zumindest eine große Autorität braucht, um es – gegen den eigenen Verstand – zu „glauben“. Da nennt der Engel seinen Namen. Er heiße „Gabriel“, sagt er, was bedeutet: „Gott ist mein Bräutigam“. Das grenzt schon an Gotteslästerung. Und Gabriel gibt noch eins obendrauf: Du wirst jetzt den Mund halten, sagt er dem Zacharias. Der Sache nach sagt er das. Im Text klingt es etwas eleganter: „Du wirst verstummen und nicht reden können, bis das alles eingetreten sein wird, weil du meinen Worten nicht geglaubt hast …“ (Lk. 1,20) Und so kommt es dann. Schweigend und stumm geht er nach Dienstschluss nach Hause. Und seine Frau „empfing“ …

Lukas schwelgt in Kompositionskunst, als wäre er der Beethoven unter den Evangelisten. Er baut nun die Erzählung vom Treffen der beiden zukünftigen Mütter von Johannes „Gott ist gnädig“ und Jesus, was bedeutet „Gott rettet“ in seine Komposition ein.

Damit wird eine Familiengeschichte konstruiert; denn Elisabeth und Maria, die wesentlich Ältere und die ganz Junge, sind Cousinen, Johannes und Jesus also nicht nur geistes-, sondern auch leiblich verwandt.

Man könnte noch die beiden Männer näher betrachten: Zacharias und Josef; aber Lukas lässt das Thema nur anklingen und führt es nicht aus. Man darf sich selbst was denken. Wie bei aller großen Kunst; denn das Kunstwerk entsteht ja neu im Auge, im Herzen der Betrachtenden.

Zurück zur Erzählung: Nachdem Maria, die zukünftige Mutter des zukünftigen Herrn ihr „Magnificat“, ihren Lobpreis gesungen hat, ist am Ende des Kapitels nun Zacharias, der Vater des zukünftigen Propheten dran, seinerseits Gott „groß“ zu machen und zu preisen: Und sein Vater Zacharias wurde vom Heiligen Geist erfüllt, weissagte und sprach: Gelobt sei der Herr, der Gott Israels! (Lk. 1, 67)

Lukas lässt keinen Zweifel daran, dass der kommende Herr ein Jude sein wird und sein Gott der „Gott Israels“! Hätte man nur genau in der Bibel gelesen über alle Jahrhunderte, wäre den Juden, wäre Israel, wäre uns Deutschen und vielen anderen vieles Furchtbare erspart geblieben!

Gelobt sei der Herr, der Gott Israels! Was da alles jetzt folgt, ist nicht der Abgesang auf Israel und der Auftakt zur Kirchengeschichte, sondern von theologisch erkannter Präzision und Tiefsinnigkeit zugleich: Der Gott Israels ist kein anderer als der Gott, der Jesus auferweckt von den Toten – den Jesus, der ihn, den Gott Israels, vertraulich „Vater“ nennt noch in den Minuten seines Sterbens am Kreuz.

Der Gott Israels ist es auch, der seinen heiligen Geist - denselben, der schon den Zacharias zeitweilig erfüllt hat und seinen Sohn Johannes von Geburt an - als den Geist Jesu Christi, zu Pfingsten auf und in die Apostel fahren lässt, woraufhin die Gott in fremden Sprachen bezeugen, so dass ganz Jerusalem mit allen Fremden darin einander versteht.

So sind die Vor-Geschichte zu Jesus und die Nach-Geschichte, sind Israel und Apostelgeschichte vielfältig verknüpft. Und gerade so erzählt Lukas von einer unerhörten Neuigkeit, nämlich vom Neuanfang der Weltgeschichte in der „Mitte der Zeit“, in Jesus als dem Christus.

76 Und du, Kindlein, wirst ein Prophet des Höchsten heißen. Denn du wirst dem Herrn vorangehen, dass du seinen Weg bereitest 77 und Erkenntnis des Heils gebest seinem Volk in der Vergebung ihrer Sünden,

78 durch die herzliche Barmherzigkeit unseres Gottes,

durch die uns besuchen wird das aufgehende Licht aus der Höhe, 79 damit es erscheine denen, die sitzen in Finsternis und Schatten des Todes, und richte unsere Füße auf den Weg des Friedens.

Lukas hat sich viel dabei gedacht, als er dieses Stück komponierte. Ganz bestimmt hatte er zwei Adressaten vor Augen: Mit Zacharias war sein eigenes Volk gemeint. Und zum anderen hatte Lukas ganz bestimmt seine Leser vor Augen! Deren Füße sollen ausgerichtet werden auf den „Weg des Friedens“.

D.h., liebe Gemeinde, wir sind gemeint als die, die da „sitzen in Finsternis und Schatten des Todes“.

Denn das war dieses Jahr doch auch: Eine permanente Auseinandersetzung mit dem möglichen und dem realen Tod von Menschen, gestorben an Covid-19, gestorben an Europas Grenzen oder in den Slums und Lagern weltweit.
Dabei wissen wir doch selber, dass uns kein Gott, weder jüdisch noch christlich noch sonst, einfach so aus der Geschichte heraus „erlösen“ wird, sondern dass es vielmehr tatsächlich auf „Wegbereitung“ ankommt! So nannte Dietrich Bonhoeffer das gebotene moralische Handeln von Christen und Christinnen.

Wir hören die Botschaft des Advents 2020, dass das „aufgehende Licht aus der Höhe“ uns besuchen will. Lasst uns ihm doch entgegengehen!