18.10.2020 - "Unser Wort hat eine Bestimmung!" - Predigt zu Eph. 4, 22-32 am 19. Sonntag nach Trinitatis (Pfr. Koller)

Die Methode ist ebenso einfach wie wirkungsvoll. Eine Behauptung wird aufgestellt, wird medienwirksam verbreitet, erntet den erwarteten Widerspruch. Wird zurückgewiesen, korrigiert, umformuliert und gerne an anderer Stelle erweitert.

Das Vokabular gleicht sich: „aus dem Zusammenhang gerissen“, „war so nicht gemeint“, „ist falsch wiedergegeben worden“, „ist überhaupt nicht gesagt worden, so nicht und auch anders nicht“.

Die Schuldigen sind die anderen, die Medien! Die Presse, die hat gelogen! Und dann geht das Wort von der „Lügenpresse“ um.

Erinnern wir uns noch an diese leidige Diskussion um Flüchtlinge, auf die an der Grenze im Notfall geschossen werden darf? Wohl auch auf Frauen und Kinder, wie es dann noch von anderer Stelle hieß.

Darf natürlich nicht - weder noch - und das wird, hoffentlich, auch beiden bekannt gewesen sein. Das Recht, auf das sie sich beziehen, ist an der Stelle eindeutig.

Und doch ist die Rechnung aufgegangen! Sie haben die ohnehin schon angespannte Atmosphäre verschärft und dunkle Ressentiments verstärkt. Die Diskussion war da und die viel gescholtenen Medien haben ebenfalls ihre zugedachte Rolle gespielt und ein „Unthema“ zum Thema gemacht.

Nur dass dabei unterschwellig, aber wirksam Fremdenhass geschürt wurde, Menschen diffamiert wurden, Leben zerstört wurde.

Mit Ängsten lässt sich Meinung und Politik machen. Dumpfe Gefühle werden angesprochen, aus den Tiefen nach oben geholt und wieder salonfähig gemacht: „Das wird man doch noch sagen dürfen!“

Und dann die bekannte Methode: „So war es nun auch wieder nicht gemeint“. Man hat sich nur ganz allgemein geäußert, was man eben so sagt und hört und denkt.

Hören wir das Wort der Heiligen Schrift für den heutigen Sonntag! So steht geschrieben im Eph. 4, 22-32:

22 Legt von euch ab den alten Menschen mit seinem früheren Wandel, der sich durch trügerische Begierden zugrunde richtet. 23 Erneuert euch aber in eurem Geist und Sinn 24 und zieht den neuen Menschen an, der nach Gott geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit. 25 Darum legt die Lüge ab und redet die Wahrheit, ein jeder mit seinem Nächsten, weil wir untereinander Glieder sind. 26 Zürnt ihr, so sündigt nicht; lasst die Sonne nicht über eurem Zorn untergehen 27 und gebt nicht Raum dem Teufel. 28 Wer gestohlen hat, der stehle nicht mehr, sondern arbeite und schaffe mit eigenen Händen das nötige Gut, damit er dem Bedürftigen abgeben kann. 29 Lasst kein faules Geschwätz aus eurem Mund gehen, sondern redet, was gut ist, was erbaut und was notwendig ist, damit es Segen bringe denen, die es hören. 30 Und betrübt nicht den Heiligen Geist Gottes, mit dem ihr versiegelt seid für den Tag der Erlösung. 31 Alle Bitterkeit und Grimm und Zorn und Geschrei und Lästerung seien fern von euch samt aller Bosheit. 32 Seid aber untereinander freundlich und herzlich und vergebt einer dem andern, wie auch Gott euch vergeben hat in Christus.

Was ist Lüge, was ist Wahrheit?

Ein „Kind wird von seinem Lehrer vor der Klasse gefragt, ob es wahr sei, dass sein Vater oft betrunken nach Hause komme? Es ist wahr, aber das Kind verneint es.“

Dietrich Bonhoeffer, der dies Beispiel bringt, sagt ausdrücklich, dass das Kind richtig gehandelt hat! Der Lehrer hat die Ordnung der Familie missachtet! „Die Familie hat ihr eigenes Geheimnis, das sie zu wahren hat.“ Insofern hat der Lehrer eine unzulässige Grenzüberschreitung vollzogen. Das Kind wusste sich nicht anders zu schützen, als die Unwahrheit zu sagen. Es hat den Vater geschützt, die Familie und letztlich auch sich selbst. Darum hat es Recht - und auch die Wahrheit gesagt.

Wahrheit besteht immer in Beziehung. Sie gleicht einem Mantel, sagte Max Frisch, dem man dem anderen hinhalten soll, dass er hineinschlüpfen kann, und nicht wie einen nassen Waschlappen um die Ohren hauen soll.

Wahrheit ist nicht ein Schutz, sie ist auch etwas Lebendiges, sie ist so lebendig, wie das Leben selbst! Das unterstreicht D. Bonhoeffer sehr deutlich und setzt dagegen: „Es ist ein Zyniker, der unter dem Anspruch, überall und jederzeit und jedem Menschen in gleicher Weise, die Wahrheit zu sagen‘, nur ein totes Götzenbild der Wahrheit zur Schau stellt.“

Der heutige Predigttext aus dem Epheserbrief stellt die Frage von Lüge und Wahrheit in den Zusammenhang des Gemeindelebens. Damit geht er einen Schritt über die klassischen paulinischen Schriften hinaus. Fügte der Apostel Paulus seinen Briefen am Ende allgemeine Ermahnungen hinzu, wie sie in der Antike bekannt waren, sowohl bei den Griechen wie auch bei den Römern, haben seine Nachfolger diese theologisch verankert und sie auf die Gemeinde und damit auf Christus bezogen.

Vermutlich stammen die Äußerungen aus dem Taufunterricht, dem man die Überschrift geben könnte: „Durch die Taufe seid ihr neue Menschen, nun lebt auch als neue Menschen!“

Die Mahnungen, mögen sie noch so allgemein formuliert sein, beziehen sich auf diese neue Wirklichkeit, in der getaufte Christen leben. Denn die Wahrheit dient dem gemeinsamen Leben. Und die Wahrhaftigkeit schützt jedes Leben.

Die Lüge hingegen hat den Geruch der Fäulnis. Wo sie sich breitmacht, stirbt alles Leben, zerfällt der Körper, zerbröseln Gemeinde und Gemeinschaft.

Von der Macht der Lüge hat Martin Walser einen eindrücklichen Roman geschrieben: Finks Krieg.

Stefan Fink erlebt am eigenen Leib, wie die Lüge Leben zerstören kann. Er arbeitet als Beamter in der hessischen Staatskanzlei und ist der Verbindungsmann zu den Kirchen und Religionsgemeinschaften. Die Regierung wechselt, und dem neuen Staatssekretär ist er ein Dorn im Auge. Für seinen Posten hat er einen Parteifreund vorgesehen. Und nun beginnt ein Ränkespiel:

Fink soll in eine andere Abteilung abgeschoben werden, denn Kirchenvertreter - deren Namen nicht genannt werden könnten - hätten sich über ihn beschwert.

Fink wehrt sich, er sieht sich verleumdet, aber vor Gericht scheitert er. Es steht Aussage gegen Aussage. Und die Kirchen… schweigen!

Fink versuchte, in Frankfurt eine Religionsschule einzurichten. Dagegen hatte vor allem die römisch-katholische Kirche Vorbehalte, mit gutem Recht im Übrigen. Aber an dem Menschen Stefan Fink hatte sie anscheinend kein Interesse.

Den Kampf, der ihm als Kampf David gegen Goliath erschien, und die unübersehbare Anzahl der Aktenordner beschriftete er darum auch mit der Abkürzung „DGG“.

Der Kampf ließ ihn nicht mehr ruhen. Er zerstörte sein Verhältnis zu den Mitarbeitern, zur Familie, zu sich selbst. Er hat ihn krank und alt gemacht. Aus der Selbstentzweiung wurde Selbsthass. „Dieser grauenhafte Beamte Fink. Wie ich ihn hasste“, schreibt Martin Walser, „aber er war das Einzige, was ich war und hatte. Von ihm mich trennen - das hätte geheißen, mich umzubringen.“

Der quälerische Rechtsstreit verändert ihn völlig. „Meine Haare fielen aus, einige Zähne auch, ich wurde dicker, der Garten vor dem Häuschen in Bleidenstadt verwilderte.“

Ein Michael Kohlhaas des 20. Jahrhunderts!

Ein Mensch, der an einer Lüge irre wird, die seine Existenz an der Wurzel zerstört. Für die anderen, so schien es ihm, „war er doch kein Mensch, sondern ein Hindernis, das man aus dem Weg kickt“.

Verbindungsmann zu den Kirchen! Und die Kirchenvertreter? Sie schweigen! Sie wurden instrumentalisiert und haben sich instrumentalisieren lassen, haben eigene Interessen vor Wahrheit und Wahrhaftigkeit gestellt.

Dietrich Bonhoeffer hat sehr deutlich gesagt, ich zitiere aus seiner „Ethik“, „dass bewusstes Verschweigen auch Lüge sein kann“.

Der Satan ist der „Vater der Lüge“, der Gegenspieler Gottes. „Lüge ist Widerspruch gegen das Wort Gottes, wie er es in Christus gesprochen hat und in dem die Schöpfung beruht, Lüge ist demzufolge die Verneinung, Leugnung und wissentliche und willentliche Zerstörung der Wirklichkeit, wie sie von Gott geschaffen und in Gott besteht, und zwar soweit dies durch Worte und durch Schweigen geschieht. Unser Wort hat die Bestimmung, in der Einheit mit Gottes Wort das Wirkliche, wie es in Gott ist, auszusagen ...“

Diese neue Wirklichkeit, in die wir alle als getaufte Christen gestellt sind und in der wir leben, ja, leben sollen, bildet den Maßstab für alles Reden und Schweigen. Wir sind der Gemeinschaft und dem Einzelnen verpflichtet! Oder wie Martin Luther im Kleinen Katechismus sagt: Wir „sollen ihn entschuldigen, Gutes von ihm reden und alles zum Besten kehren“!

Jener Staatssekretär, den Martin Walser porträtiert hat, fand die ganze Angelegenheit nur „komisch“ und verstand es überhaupt nicht, weil der Beamte doch sein Gehalt durchaus behalten hätte.

Dass es diesem nicht um Geld ging, sondern um Ehre und Würde, hat er nicht verstanden und vielleicht auch nicht verstehen können.

Der Beamte ist rehabilitiert worden. Kirchenvertreter haben eingestanden, dass sie nichts gegen ihn gehabt hatten, die Regierung hat sich öffentlich bei ihm entschuldigt. Zurückgeblieben aber ist ein gebrochener Mensch - bis heute.

„Es gibt Gemeinheiten, die werden“, so schreibt Martin Walser, „auch wenn sie zurückgenommen werden, nicht aus der Welt geschafft.“

Er hat seine Erzählung auf der Grundlage der Akten eines tatsächlichen Falles geschrieben, der als „Affäre Gauland“ in die hessische Geschichte eingegangen ist. Jener Politiker agierte perfide gegen einen ihm missliebigen Beamten, um ihn loszuwerden, und zerstörte sein Leben.

Spätere Einsicht? Fehlanzeige! Die Methoden gleichen sich.

Die Mahnungen des Epheserbriefes haben heutzutage an Brisanz nur noch gewonnen. Getaufte Christen stehen in der Christuswirklichkeit und haben mit ihrem Leben davon zu künden. Es gilt „ein frei Geständnis“! Oder wie es in unserem Predigttext heißt: „Darum legt die Lüge ab und redet die Wahrheit … damit es Segen bringe denen, die es hören.“