28.06.2020 - "Von Grund auf ehrlich" - Predigt zu 1.Tim 1,12-17 am 3. Sonntag nach Trinitatis (Pfr. Fischer)

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Das Predigtwort für den heutigen Sonntag steht im ersten Timotheusbrief im 1. Kapitel:

12 Ich danke unserm Herrn Christus Jesus, der mich stark gemacht und für treu erachtet hat und in das Amt eingesetzt,
13 mich, der ich früher ein Lästerer und ein Verfolger und ein Frevler war; aber mir ist Barmherzigkeit widerfahren, denn ich habe es unwissend getan, im Unglauben.
14 Es ist aber desto reicher geworden die Gnade unseres Herrn samt dem Glauben und der Liebe, die in Christus Jesus ist.
15 Das ist gewisslich wahr und ein Wort, des Glaubens wert, dass Christus Jesus in die Welt gekommen ist, die Sünder selig zu machen, unter denen ich der erste bin.
16 Aber darum ist mir Barmherzigkeit widerfahren, dass Christus Jesus an mir als erstem alle Geduld erweise, zum Vorbild denen, die an ihn glauben sollten zum ewigen Leben.
17 Aber Gott, dem ewigen König, dem Unvergänglichen und Unsichtbaren, der allein Gott ist, sei Ehre und Preis in Ewigkeit! Amen.

Liebe Gemeinde,
was ist der Grund unseres Lebens?

Das ist eine Frage, die Euch vielleicht überrascht.

„Blöde Frage; ich sitze doch hier im Gottesdienst, was wird da wohl der Grund meines Lebens sein? Außerdem hatte ich doch in den letzten Monaten genug Zeit nachzudenken“.

Ich bitte Euch trotzdem, weiter mit mir über diese Frage nachzudenken.
In einer Zeit, die vor Corona hektisch war, und langsam wieder hektisch werden wird, die sich dem Gefühl nach rasend schnell verändert,
drohen wir mitgerissen zu werden; den Halt zu verlieren und die Orientierung.

Schon Martin Luther hat dies schon erkannt, als er meinte, jeder Mensch solle sein Leben aus der täglichen Buße führen.

Buße tun heißt nichts Anderes, als innezuhalten, sein Leben zu überdenken – und immer wieder umzukehren zu dem Grund, auf dem man feststeht, der einen hält und trägt.

Also: Was ist der Grund meines Lebens, auf dem ich stehe?

Das ist auch die Frage der Gemeinde, an die der erste Timotheusbrief geschrieben wurde.

Er führt uns in die Zeit der zweiten Generation von Christen.

Die erste große Begeisterung, das erste Feuer für Jesus Christus, ist zurückgegangen.

Etwas Ernüchterung ist eingekehrt.

Man lebte bis dorthin von der glühenden Erwartung, der Herr wird bald wiederkommen und sein Reich der Liebe und des Friedens aufrichten.

Römisches Reich, Kaiser, Götter, Verfolgung und Todesangst – alles das wird weggewischt werden, wenn der Heiland wiederkommt.

Doch die Zeit verging und verging, und zu Beginn des zweiten Jahrhunderts wurde den Christen klar: Jesus Christus wird nicht so bald kommen, und die Welt wird nicht so schnell untergehen.

Das Leben geht weiter, und der Glaube muss sich in dieser Welt bewähren – in einer Welt, wie sie halt ist.

Deshalb braucht die Gemeinde Christi, braucht seine Kirche eine Ordnung und eine Idee, wie sie sich in der Welt, im Alltag bewähren und behaupten kann.

In diese Situation hinein also ist dieser Brief geschrieben: Unsichere Lage, ungewissen Zukunft.

Der Briefschreiber schreibt unter dem Namen seines Lehrers Paulus – eine Sache, die damals ganz normal war und uns nicht weiter zu stören braucht.

Denn was er sagt, das hat Gewicht und bleibt bis heute wichtig.

Da erfährt einer das Grundlegende, die Basis des Lebens: Danke, Herr Jesus Christus, dass Du an mich geglaubt hast!

Du hast mich stark gemacht, du hast mich als vertrauenswürdig angesehen, und du hast mir einen Auftrag gegeben.

Mir, einem, dem nichts heilig war, einem Zyniker, einen ‘fromme-Leute-Fresser’ und einen, der nur sich selbst geliebt hat. Für mich hast Du dich mit unendlicher Langmut eingesetzt.“

So beschreibt dieser Mensch den Anfang seines Glaubens.

Er hofft, dass die Leser und Hörer, dass also auch wir an den Anfang unseres eigenen Glaubens zurückdenken.

Nicht ständig nach vorne sollen wir streben, nicht ständig nach Neuem und Unerreichbarem; sondern stehen bleiben und zurückblicken auf den Grund unseres Glaubens.

Wie war das?

Wer hat uns an den Glauben herangeführt?

Wie kam es dazu, dass wir heute hier sitzen?

Wie kommt unsere Erwartung, dass uns in diesem Gottesdienst der lebendige Gott irgendwie berührt und uns hilft auf unserem Lebensweg?

Was treibt uns in die Gemeinschaft und in die Gemeinde Jesu Christi?

Vielleicht ist unser Glaubensanfang nicht nur etwas ganz Besonderes und Persönliches von mir.

Vielleicht spiegeln sich darin auch der Anfang und der Ursprung von anderen Glaubensgeschichten.

Vielleicht haben wir es hier mit etwas zu tun, in dem wir uns alle sehr ähnlich sind.

Dabei müssen wir keine so einschneidenden Erlebnisse gehabt haben, wie Paulus damals auf dem Weg nach Damaskus, oder wie sein Schüler, der diesen Brief geschrieben hat.

Jede unserer ganz persönlichen Erfahrungen ist wichtig

Unser Paulusschüler fängt damit an, dass er sich über alle Maßen freut.

Weil jemand an ihn geglaubt hat.

Das hat ihn stark gemacht.

Glaube fängt nicht damit an, dass jemand etwas für wahr oder richtig hält oder damit, dass jemand etwas tut.

Wenn einer glauben soll oder will, dann muss erst einer oder eine an ihn glauben, ihn wertschätzen, ihm mit unendlicher Geduld nachgehen, sich für ihn engagieren.

Martin Luther hat auch dies erkannt, als er sagte: Der Glaube wird uns geschenkt von Gott.

Wir können eigentlich nichts dafür.

Unser Glaube ist keine fromme Leistung von uns, sondern allein von Gott.

Das ist eine Erfahrung, die wir verstehen können als Menschen.

Gibt es Menschen in ihrem Leben, die an Sie geglaubt haben?

Gibt oder gab es Menschen, die sich für Sie eingesetzt haben und sie wertschätzen?

Der Paulusschüler sagt: das Eine hat mit dem Anderen zu tun.

Wenn ich glauben will oder soll, dann brauche ich zuerst einen, der an mich glaubt, der sich für mich einsetzt.

Mit diesem Gedanken kommen mir eine ganze Reihe Fragen in den Sinn: Hängt unsere heutige Glaubenskrise – damit meine ich den Schwund an Interesse für Gott und Kirche in unserer Zeit – hängt diese Glaubenskrise vielleicht mit einer anderen Krise zusammen; mit der Krise nämlich, nicht mehr am eigenen Leib zu erfahren: da glaubt einer an mich, da traut mir jemand was zu und da setzt sich jemand für mich ein!

Hängt die Glaubenskrise also damit zusammen, dass die Menschheit nicht mehr fähig ist, sich als Solidargemeinschaft zu verstehen und sich gegenseitig zu stärken, sondern jeder Mensch nur noch an seinen eigenen Vorteil zu denkt?

Mit Scheuklappen, ohne den Blick auf den Nächsten, bereit auch über Leichen zu gehen?

Wie soll ein Mensch ohne Arbeit vertrauen können, wenn er tagtäglich erfährt: es gibt keinen, dem du etwas wert bist!

Es gibt nichts, wofür meine Arbeitskraft wertvoll ist?

Wie soll eine Mutter und Hausfrau glauben können, wenn sie ständig das Gefühl hat: Ich bin ja nur Hausfrau!

Alle in der Familie nehmen meine Dienste wie selbstverständlich in Anspruch – ohne großen Dank.

Dafür mit umso mehr Kritik, wenn einmal die Wohnung nicht so ordentlich aussehen kann, oder die Klöße 10 Minuten später auf den Tisch kommen?

Wie soll ein Kind glauben können, wenn niemand da, ist der sich kümmert?

Wenn niemand da ist, der geduldig zuhört, in den Arm nimmt, tröstet und wiederaufbaut.

Wie soll Glaube wachsen in einem Kind, wenn die Eltern es nicht bestärken in dem, was es gut kann?

Wie soll ein Kind im Glauben heimisch werden, wenn es nicht die bergende Heimat erfährt?

Selbstvertrauen kann nur wachsen, wenn andere mir etwas zutrauen.

Nur so nebenbei bemerkt: Bei Taufgesprächen komme ich immer auf die Fragen zu sprechen, die den Eltern und Paten gestellt werden, und die sie mit „Ja, mit Gottes Hilfe“ beantworten.

Da heißt es in einem Satz: „Durch eure Liebe soll das Kind das erste Zutrauen zur Güte Gottes gewinnen“.

Ein unheimlich wichtiger Satz für uns alle.

Das heißt anders gesagt: Wir können die Liebe Gottes nicht begreifen, wenn wir an eigenem Leib keine Liebe erfahren haben – nicht als Kind und nicht als Erwachsener.

Und das andere: Es ist sinnlos nur über Liebe zu reden, ohne sie zu tun.

Wir sind alle füreinander sichtbare Zeichen für das, was Gott an uns getan hat.

Auch der Glaube.

Wie sollen wir glauben können, wenn niemand an uns geglaubt hat?

Schauen wir noch einmal auf unser Predigtwort:

Der Paulusschüler beschreibt sich schonungslos, wie er war: „Mir, einem dem nichts heilig war, einem Zyniker, einem Gotteslästerer ist Barmherzigkeit widerfahren.“

Da schreibt einer, der gerade nicht unter mangelndem Selbstvertrauen gelitten hat – so scheint es jedenfalls.

Er sagt nichts weiter aus über die Erfahrungen, die ihn verändert haben.

Aber es müssen so einschneidende Erlebnisse gewesen sein, dass sein bisheriges Leben einen Schnitt, einen Einschnitt erfährt und danach alles einen anderen Wert bekommt.

Er ist über alles hergezogen, hat alles lächerlich gemacht: Menschen, ihr Leben, ihren Glauben, selbst Gott.

Einem Zyniker und Gotteslästerer ist nichts heilig.

Er ist nur darauf aus, zu zerstören – alles das zu zerstören, was er selbst nicht hat.

Das hat der Paulusschüler erkannt: Eigentlich geschah sein Handeln aus einer Schwäche heraus.

Stark – wirklich stark wurde er erst, als er Barmherzigkeit und Versöhnung am eigenen Leib erfahren hat.

Er sagt darüber nichts weiter aus, durch wen er das erfahren hat.

Ich glaube, er hat es erfahren durch andere Menschen, durch ihr gelebtes Beispiel.

Vielleicht sogar durch die Menschen, die er zuvor versucht hat, fertig zu machen.

Sie haben ihm eine Vorstellung davon gegeben, was es heißt: Gott vergibt durch Jesus Christus.

Ich stelle mir vor, dass diese Menschen, nicht mit gleicher Münze zurückgezahlt haben.

Sie haben nicht versucht auch den Briefschreiber fertig zu machen.

Nein – sie haben an ihn geglaubt, dass er sich ändern kann.

Weil Jesus Christus auch den Glauben an die Menschheit nicht aufgibt.

Und es hat gewirkt.

Er kann voller Überzeugung sagen: Das ist gewisslich war und ein Wort des Glaubens wert, dass Christus Jesus in die Welt gekommen ist, die Sünder selig zu machen, unter denen ich der erste bin.

Ich hab’s nicht verdient; ich war total auf dem Holzweg – und trotzdem habe ich Versöhnung erfahren.

Gerade der, dessen Namen ich gelästert habe, der streckt mir die Hand entgegen!

Unvorstellbar! Wunderbar! Befreiend!

Endlich nimmt mich jemand ernst.

Endlich brauche ich mich nicht mehr Theater zu spielen.

Weil ich angenommen bin – Gott sei Dank!

Amen.

Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.